Yvonne Muller

28 June 2006

Januar 2006

Gestern hat sich mein Bruder Rolf verabschiedet. Er war mir eine riesige Stütze während den vergangen Tagen und er hat mich auf den ersten Schritten in einen neuen Lebensabschnitt begleitet. Jetzt bin ich ganz alleine und fühle mich ziemlich leer. Hans fehlt mir sehr und irgendwie kann ich es noch gar nicht fassen, dass er nie mehr zu uns zurück kommen wird. Die Hunde liegen mir zu Füssen und auch sie spüren, dass es nie mehr so wird wie früher. Auch Valsala ist traurig und werkelt in der Küche. Für Savitha hat der Schulalltag wieder begonnen und sie wird gefordert. So sitze ich jetzt am PC und versuche, meine Gedanken etwas zu sortieren, bevor ich mich in den Alltagskram stürze, der bereits in Mäppchen geordnet im Schrank wartet, um erledigt zu werden.

Hans war ein wundervoller Ehemann und wir verbrachten herrliche 22 Jahre zusammen. Zuerst in Bern, später kurz in Zürich und danach wieder in Bern, bis wir 1996 den grossen Schritt nach Indien wagten. Wir wussten seit jeher, dass wir wegen dem grossen Altersunterschied nie zusammen alt werden können und deshalb suchten wir eine Möglichkeit, die Jahre nach der Pensionierung von Hans, gemeinsam verbringen zu können. Hier in Kerala fanden wir eine neue Heimat und verbrachten 10 spannende, aufregende und ereignisreiche Jahre, die wir in vollen Zügen genossen. Selbstverständlich gehörten auch schwierige Zeiten dazu, aber die waren da, um gemeinsam gemeistert zu werden. Wir wurden von der hiesigen Bevölkerung freundlich aufgenommen und akzeptiert und schon bald fühlten wir uns sehr heimisch im Dorf. Wir tauchten ein in die bis anhin für uns fremde Kultur und lernten jeden Tag dazu.

Hans war in all den Jahren immer sehr aktiv. Wir waren mit Familie Gopika vom Geethanjali sehr eng verbunden, hatten dort unsere Aufgabe gefunden, ihnen beim Marketing behilflich zu sein und selber genossen wir jede Woche unsere Ayurveda-Behandlungen. Sie waren es, die uns immer zur Seite standen und mit denen wir uns am engsten verbunden fühlten. Daneben wurden wir zu kleineren und grösseren Ereignissen eingeladen, ob Hochzeiten, Einweihungen, Eröffunungen, Empfängen und Seminarien und überall waren wir gern gesehene Gäste. Hans war als „the white riksha-driver“ im Dorf bekannt und machte täglich seine Tour. Auch legte er immer sehr viel Wert darauf, das Auto selbst zu steuern und wer den indischen chaotischen Verkehr kennt, weiss, was das heisst. Er war einer der wenigen Weissen hier, die sich überhaupt hinters Steuer wagten.

In den frühen Morgenstunden des 23. Januar schlief Hans friedlich vor dem PC ein. Er hatte alle geschäftlichen Angelegenheiten erledigt, weil er nicht schlafen konnte und danach surfte er in den Schweizer-News im Internet herum. Er wurde müde, schlief ein und ging ruhig und in Frieden von uns. Um 06.00 Uhr stand ich auf und fand ihn in seinem Stuhl. Ich war völlig gefasst, weder geschockt noch sonst aufgeregt. Ich nahm in aller Ruhe Abschied von ihm und konnte das Geschehene akzeptieren. Ich konnte Hans keinen schöneren Tod wünschen. Hans hatte immer Angst, einmal alt und gebrechlich zu werden, auf jemanden angewiesen zu sein, der ihn pflegt, oder über Jahre krank zu sein und unter Schmerzen leiden zu müssen. Das blieb ihm erspart und darüber bin ich sehr froh und dankbar. Er war aktiv bis zur letzten Sekunde – hatten wir doch die Woche davor noch ein Ayurveda-Hospital besichtigt und am Sonntag trafen wir uns mit Freunden an der Kovalam Beach und genossen einen herrlichen Nachmittag zusammen, bevor wir nach Hause fuhren.

Nachdem ich mich von ihm verabschiedet hatte, weckte ich Valsala und Savitha, ich rief unseren Freund Bose und Gopikas an und schon begann der grosse Rummel. Eine Delegation von 10 Polizisten kümmerte sich um die administrativen Angelegenheiten, weil sie besonders vorsichtig sein wollten, da wir Ausländer sind. Ich musste Red und Antwort stehen, Papiere organisieren, Telefonate erledigen und so blieb überhaupt keine Zeit, die vielen Kondolenzen entgegen zu nehmen. Hans wurde im Wohnzimmer schön aufgebahrt und das halbe Dorf kam, um sich von ihm zu verabschieden. Bose organisierte alles für den Transport ins Medical College und auch Dr. Gopika hatte alle Hände voll zu tun mit der Organisation der kommenden Tage.

Zuerst war geplant, dass Hans zwei Tage später in einer Halle in Trivandrum aufgebahrt werden sollte vor der Kremation. Doch dann kam alles anders, weil in der Stadt wegen den bevorstehenden Wahlen keine einzige Halle zur Verfügung stand. Die Stadt war wegen den Wahlen, den vielen Kundgebungen und Demos im Ausnahmezustand, alles war blockiert und das Krematorium ausser Betrieb. Dr. Gopika schlug vor, dass er am liebsten Hans auf seinem eigenen Grund und Boden nach Hindu-Riten verbrennen würde. Ich war tief gerührt und konnte mir keinen schöneren Beweis der familiären Bande vorstellen, denn wo findet man einen religiösen Hindu, der einen Ausländer, dazu noch einen Christen die letzte Ehre auf seinem eigenen Boden erweist? Damit gaben sie mir zu verstehen, dass Savitha und ich von nun an zu ihrer Familie gehören und dass sie sich um uns sorgen werden.

Rolf traf am Mittwoch in der Früh ein und ich war froh, ihn an meiner Seite zu wissen. Es war auch für die hiesige Bevölkerung wichtig, dass ein Mann aus meiner Familie sich um mich kümmerte. Gerade der Schwager des Verstorbenen nimmt hier nach dem eigenen Sohn die wichtigste Stellung ein.

Am gleichen Tag fand die Bestattung im Geethanjali statt. Hans wurde beim Eingang zum Gästehaus aufgebahrt und alle kamen, um sich nochmals von ihm zu verabschieden. Freunde und Bekannte, Delegationen von Geschäften und Hotels, in denen wir verkehrten, alle, denen wir durch die Foundation geholfen haben und ganze Schulklassen. Ich war tief gerührt und bewegt von der grossen Anteilnahme. Es war ein herrlicher, sonniger Tag, Hans hätte es sich nicht schöner wünschen können. Im Herbal-Garden war alles für die Verbrennungs-Zeremonie vorbereitet worden und Rolf wurde vom Priester angewiesen, was zu tun war. Er hat seine Aufgabe mit grosser Würde ausgeführt und schon bald brannte der Mangoholz-Haufen lichterloh.

Vier Tage danach trafen wir uns mit Gopikas wieder im Geethanjali und Rolf hat während einer Zeremonie die Asche aufgesammelt und sie in zwei Tonurnen gelegt. Auch da hatte jede einzelne Handlung eine Bedeutung und es herrschte eine friedliche und feierliche Stimmung in den Morgenstunden. An der Feuerstelle wurde ein Kokosbaum gepflanzt, so wie es hier üblich ist, einen Thulassi-Strauch und eine Turmeric-Staude. Als Zeichen, dass aus vergangenem Leben wieder neues entstehen soll. Und so werden wir in Zukunft immer ein Plätzchen haben, wo wir Hans besuchen können, wenn wir ins Geethanjali kommen. Die beiden Urnen wurden bei uns im Garten unter einem Jackfruit-Baum vergraben und jeden Abend vor Sonnenuntergang zünden wir die Öllampe im Garten an zum Gedenken an Hans.

Am Montag nahmen wir an einem kleinen Gottesdienst in der nahen Kirche von Gopikas teil und anstatt die Gäste danach zu verköstigen, habe ich Reis- und Linsensäcke unter den Armen verteilt.

In all den Tagen dazwischen haben Rolf und ich von morgens früh bis in die späten Abendstunden gearbeitet. Hans hat mich während all den Jahren immer auf Händen getragen und das hiess, dass er die ganze Administration und was dazu gehörte, alleine getätigt hat. Deshalb half mir Rolf, mich auf dem PC zurecht zu finden, alles neu zu organisieren und so hoffe ich, das Büro alleine managen zu können. Da ich bis am 9. Februar das Haus nicht verlassen darf, hat sich unsere Arbeit vor allem auf das Haus beschränkt. Trotzdem haben wir schon einen auswärtigen Termin auf der Bank wahrgenommen und so werde ich in den nächsten Wochen und Monaten noch voll beschäftigt sein, all den Papierkram zu regeln, alles auf die Reihe zu bekommen und mein Leben neu zu organisieren. Es gibt noch viel zu tun, ich muss sehr viel lernen und beginne praktisch bei null. Trotzdem hoffe ich, dass ich es schaffen werde und ich in einem Jahr stolz auf das Erreichte zurückblicken kann.

Ich hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, Kerala zu verlassen und einen Neustart in der Schweiz zu wagen. Nein, mein Leben ist hier. Ich will für Savitha sorgen, unsere Familie sind Gopikas und auch Valsala wird weiterhin bei uns bleiben. Ich möchte die Arbeiten im Sinne von Hans weiterführen und für das Geethanjali tätig sein und auch die Foundation möchte ich im bescheidenen Rahmen aufrecht erhalten.

Am 9. Februar wird nochmals eine Pooja an der Papanasam Beach in Varkala stattfinden, wo ich nach einem Ritual die Urne mit der Asche dem Meer übergeben werde. Die zweite Urne bringen wir in einen Tempel in Nordkerala. Wir hatten diese Familienreise mit Gopikas bereits für die Sommerferien geplant und so werden wir die Asche dort deponieren.

Die Zukunft sieht so aus, dass ich jetzt versuche, alles irgendwie in den Griff zu bekommen, all die administrativen Sachen, die Umschreibungen und was sonst noch alles zu tun ist, und daneben sind wir auf der Suche nach einem geeigneten Haus in der Nähe von Gopikas. Der Vertrag hier läuft Ende Jahr aus und wegen Savitha müssen wir unbedingt vor dem neuen Schuljahr umziehen, damit sie nach den Sommerferien in der neuen Schule beginnen kann. Dazu muss ich im Mai Indien verlassen und in der Schweiz ein neues 5-Jahres-Visum beantragen. Valsala wird auch noch im kleinen Rahmen im April heiraten und somit konzentriert sich alles auf April und Mai. Es wird anstrengend werden und viel los sein. Aber mit der grossen Hilfe von Gopikas und von Bose hoffe ich doch, dass wir alles irgendwie unter einen Hut bekommen werden.

Bis alles soweit ist, bitte ich euch, etwas Geduld zu haben, wenn ich mich nicht mehr so oft melde, wie ich das gerne möchte. Ich bedanke mich nochmals herzlich für all die vielen wundervollen und sehr persönlichen Worte, die vielen Gedanken und Gebete werden mich auch in Zukunft begleiten und irgendwann werde auch ich wieder positiv in die Zukunft blicken können.

Seid herzlich gegrüsst und umarmt


Yvonne mit Savitha und Valsala