Yvonne Muller

28 June 2006

Februar 2006

Ein schwerer und langer Monat neigt sich dem Ende entgegen. Das Leben ist nicht mehr wie vor dem 23. Januar, aber Savitha und ich rappeln uns auf und sind auf gutem Weg, unseren neuen Lebensabschnitt in den Griff zu bekommen und ihm wieder einen Inhalt zu geben. Es wird nie mehr so sein wie vorher, aber wir sind überzeugt, dass wir zuversichtlich in die Zukunft blicken dürfen. Wir fühlen uns beide sehr getragen von der hiesigen Bevölkerung, die Anteilnahme und Hilfe aller Freunde ist überwältigend und wir gehören jetzt zur Geethanjali-Familie. Auf diesem Weg bedanke ich mich nochmals herzlich für eure grosse Anteilnahme, die lieben Briefe und e-mails mit den tröstenden und aufbauenden Worten, die zahlreichen Anrufe und für die Spenden zum Gedenken an Hans. Es tut gut zu wissen, dass alle uns in Gedanken begleiten.

Mein Bruder Rolf war mir in den 10 Tagen eine riesige Stütze gewesen und ich bin ihm unendlich dankbar, dass er an meiner Seite war und mir bei den ersten Schritten in ein neues Leben half. Zwischen all den Zeremonien und Poojas haben wir jeden Tag von morgens bis abends gearbeitet, das Büro neu organisiert, ganze Aktenschränke mussten durchgesichtet werden und es gab viel zu tun. Ich hatte grossen Bammel vor dem Abschied, da ich von jetzt an wirklich alleine sein werde. Am Mittag alleine am Esstisch sitzen, ausser Savitha spricht niemand mehr in meiner Muttsprache, mit wem kann ich mich austauschen, wem kann ich mich anvertrauen, wer baut mich auf, wenn ich traurig bin? Zudem fehlt es mir an Selbstvertrauen und von jetzt an muss ich alle Entscheidungen alleine fällen. Mit Rolf war alles viel erträglicher gewesen und er holte mich immer wieder aus einem Tief heraus. Er hatte mir während diesen Tagen beigebracht, dass ich mich an den kleinen Erfolgen erfreuen soll und wenn auch nicht alles auf Anhieb klappe, so soll ich doch jeden Abend Bilanz ziehen und sicher werde immer etwas Positives dabei sein. Und siehe da – ich hatte schon ganz viele solche Erfolgserlebnisse! Ja, es gibt so vieles, woran ich mich erfreuen kann. Ich bin jedes Mal stolz, wieder etwas gelernt zu haben, oder wenn wieder eine Pendenz vom Tisch ist. Und wenn es nur darum geht, dass ich jetzt weiss, wie man den Generator anlässt, wie das Elektrotableau mit den Stromzufuhren zu handhaben ist und als es Probleme mit dem Wasserhahn gab, habe ich auch das gelöst. Zudem habe ich bereits eine Privatsekretärin. Savitha checkt zweimal am Tag meine mails. Rolf hat ihr sogar eine eigene e-mail-Adresse eingerichtet, doch bis jetzt blieb die box meistens leer. Sie würde sich riesig freuen, ab und zu einen kleinen Gruss von jemandem zu bekommen. Ob in Deutsch oder Englisch spielt keine Rolle. Und sie wird auch bestimmt antworten! Hier ihre Adresse:
savitha.muller@hotmail.com

Der Abreisetag von Rolf rückte immer näher. Am 3. Februar fuhr ihn der Taxifahrer zum Flughafen. Ich durfte ihn nicht einmal begleiten, da ich bis am 9. Februar nach Hindu-Riten ans Haus gebunden war. Aber vielleicht war es auch besser so. Ich hatte überhaupt keine Zeit um traurig zu sein, denn kaum hatte ich mich von ihm verabschiedet, wurde ich ganz schön gefordert! Der PC stieg aus, ich hatte einen Virus eingefangen und die beiden Techniker waren bis in die Abendstunden beschäftigt, die Kiste wieder zum Laufen zu bringen. Das hatte mir gerade noch gefehlt! Da hatte mir Rolf alles so schön neu organisiert, strukturiert und geordnet und jetzt war ausser den nackten Daten alles weg und ich begann wieder von vorne. Aber wenigstens konnte ich den PC wieder benützten und durchs Internet war ich auch wieder mit der Welt verbunden. Ein harter Anfang!!! Doch am Abend rühmte ich mich, dass ich es geschafft hatte, die richtigen Leute zu organisieren und war glücklich, überhaupt wieder arbeiten zu können. Vielleicht brauchte ich diesen Kick und von da an kam alles ins Rollen. Ich wurstelte mich alleine durch, lernte viel in diesen Tagen und abends zog ich positive Bilanz. Es war unglaublich, aber es ging wirklich vorwärts. Meine Gefühlswelt war ziemlich unausgeglichen, ein ständiges Auf und Ab und doch ging es mir relativ gut.

Drei Tage später wollte dann aber mein Körper nicht mehr. Ich bekam eine schmerzhafte Nervenentzündung an der rechten Hüfte, die mich völlig lahm legte. Ich konnte weder sitzen noch stehen, nicht liegen, nicht laufen und am Schlimmsten wars, wenn ich die Position ändern musste. Vor Schmerzen rannen die Tränen und wenn ich in den ersten Stock wollte, musste ich mich mit beiden Armen am Geländer hoch ziehen. Ich fühlte mich alt und nutzlos, niedergeschlagen und es gab Tage, da wollte ich einfach nichts mehr machen. Durch die Schmerzen konnte ich auch nicht mehr so viel arbeiten und so lag ich halt herum und tat nur das Allernötigste.

Der nächste Meilenstein war am 9. Februar. Am 16. Tag nach der Verbrennung sollte ich eine Pooja an der Beach machen. Ich hatte mich darauf gefreut, war es doch immer der Wunsch von Hans gewesen, einmal seine Asche hier an der heiligen Papanasam Beach dem Meer zu übergeben. Und obwohl dieses Ritual sonst nur die Söhne oder andere männliche Familienmitglieder machen dürfen, bekam ich die Erlaubnis für die Pooja. Bose, unser Vertrauter in Varkala, hatte alles organisiert. Ich hatte eine schlechte Nacht hinter mir, kam am Morgen kaum auf die Beine, während dem Frühstück wurde mir schlecht und musste mich hinlegen und ich fürchtete schon, dass ich die Pooja nie und nimmer durchstehen würde. Mit Ach und Krach duschte ich, zog mich an und wartete als Hausherrin auf die Gäste. Gopikas kamen mit ihrer Familie, Verwandten und ihren Kurgästen, Bose mit seiner Familie und anderen Freunden. Doch kaum betrat Geetha das Haus, fiel ich völlig in mich zusammen. Da klebte ich wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa, kam nicht hoch, obwohl ich doch alle begrüssen wollte, ich litt unter den starken Schmerzen, mir wurde wieder schlecht und so kullerten abermals Tränen. Da kam emotional so viel zusammen, dabei wollte ich doch für Hans stark sein und nicht schwach, bleich und zerbrechlich. Doch mein Körper machte einfach nicht mit. Geetha erschrak bei meinem Anblick und begleitete mich ins Zimmer, wo ich mich nochmals hinlegte. Schnell fühlte ich mich etwas besser und ich war zuversichtlich, dass doch noch alles gut gehen würde.

Es war einfach zu viel gewesen. All die schweren Tage, der Abschied von Hans, Rolf nicht mehr hier und ich spürte förmlich die ganze Last auf meinen Schultern ruhen. Die Verantwortung für Savitha, das Geethanjali braucht mich, alles was sonst organisiert werden muss, ob Umschreibungen, Löschungen, Verkäufe. Dazu die vielen offenen Fragen: Wird Savitha auch in Zukunft bei mir bleiben? Wo werden wir wohnen? Wo wird Savitha zur Schule gehen? Steht mir überhaupt eine Witwenrente zu? Was ist mit meinem Visa?

Doch um 10.00 Uhr ging es los. Geetha und Mani, unsere liebste Nachbarin, halfen mir auf die Füsse, der Schwindel war weg und im Garten wurde bereits die eine Urne ausgegraben, wo Savitha und ich jeden Abend um 18.30 Uhr bei Sonnenuntergang die Öllampe anzünden und eine kleine Pooja machen. In drei Autos fuhren wir zur Beach, wo bereits weitere Freunde warteten. Ein herrlich sonniger Morgen erwartete uns. Ein wolkenloser, stahlblauer Himmel, eine angenehme Brise wehte, das Meer lag wie ein tiefblauer Teppich vor uns und die Wellen brachen sich schäumend, bevor sie am Ufer ausliefen. Die ersten Touristen hatten sich bereits am Strand unter den Klippen für einen weiteren Ferientag eingerichtet und um uns herum waren Einheimische, die auch ihre Poojas verrichteten. Es war ein typischer Morgen, wie Hans ihn oft erlebte, wenn er mit seiner Rikscha die „Varkala-Tour“ machte und den fragenden Leuten lachend erklärte, dass er nur kontrollieren wolle, ob das Meer noch da sei. Ja, es war noch hier! Für ihn ganz alleine!!! Hans kam oft an diesen Strandabschnitt, parkierte kurz, schaute den Priestern bei den Poojas zu, genoss den Blick über das weite Meer und dann gings weiter zu den Klippen oder zurück ins Dorf, wo er seine Einkäufe erledigte.

Während der Priester seine Mantras sang und ich nach seinen Anweisungen Reis, Blumenblüten und Rosenwasser in die Urne gab und dieses Ritual x-mal wiederholte, sass ich ihm ganz ruhig gegenüber im Sand. Die Schmerzen waren weg, ich konnte mich voll auf die Pooja konzentrieren, ich fühlte mich Hans sehr nah und ich spürte weder die stechende Sonne noch nahm ich sonst etwas um mich herum wahr. Nur der Priester, Hans und ich. Nur zum Aufstehen mussten mir Geetha und Mani helfen. Am Schluss trug ich den Tontopf auf dem Kopf zum Meer. Ich muss so bleich und schwach ausgesehen haben, dass alle dachten, ich würde die Urne fallen lassen. Aber nein, ich fühlte mich stark – für Hans. Ich lief aufrecht, den Topf auf dem Kopf haltend, ich stolperte nicht über den inzwischen schweren nassen Sari, der voll mit Sand paniert war, sondern trippelte Schritt für Schritt zum Ufer. Mit dem Rücken zum Meer stellte ich mich hin und Dr. Gopika gab mir ein Zeichen, wann ich den Topf rückwärts ins Wasser werfen musste, als gerade ein grosse Welle kam. Und nicht mehr zurück schauen! Ich hatte es geschafft und Hans wird erlöst werden. Ich war so überwältigt, dass ich nochmals zusammen brach. Wieder liefen die Tränen, Freunde umarmten mich, hielten und stützten mich und ich war glücklich, alles hinter mir zu haben. Hans hätte sich über diesen Morgen sehr gefreut.

Gopikas begleiteten uns nach Hause und liessen mir Medizin da und ein Öl, welches Valsala mir zweimal täglich einmassieren sollte. Und siehe da, zwei Tage später war die Entzündung über Nacht wie weg geblasen. Mir ging es wieder gut, hatte keine Schmerzen mehr, war voller Energie und Tatendrang. Das war eine typische Reaktion des Körpers gewesen und da ich nicht auf den Körper gehört hatte und von mir aus kürzer trat, hat er halt Stopp gesagt. Seither schätzte ich meine Gesundheit wieder, weiss, was es heisst, bewegungsunfähig und auf andere angewiesen zu sein.

Jetzt geht es mir sogar so gut, dass ich wieder mein Training aufgenommen habe, da ich gemerkt habe, dass mir ein normaler Tagesablauf fehlt. Deshalb stehe ich wie früher um 06.00 Uhr auf, trainiere bis zum Frühstück um 08.30 Uhr und danach wird gearbeitet bis zum Mittagessen. Wenns drinliegt, lege ich mich danach eine Stunde hin, wieder arbeiten bis Savitha aus der Schule kommt, mit ihre Zvieri essen, danach nochmals eine Stunde Power-Walking und nach dem Duschen ist es meistens Zeit für das Deepam im Garten unter den beiden Jackfruit-Bäumen. Bis zum Nachtessen gebe ich mich mit Savitha ab, danach wird nochmals kurz gearbeitet und bevor wir zusammen ins Bett gehen, schaue ich gerne die News auf DW-TV (Deutsche Welle) und die Spezialsendung danach. So hat mein Tag wieder eine Struktur bekommen und das ist gut so. Ich habe gelernt, wieder mehr auf den Körper zu hören und mir auch Auszeiten zu gönnen. Einen schönen Tag mit einer Freundin, ob zu Hause, an der Beach oder in der Stadt, jemanden besuchen oder nach Hause einladen - dafür muss einfach Zeit sein.

Nach dem 9. Februar war ich endlich wieder „frei“ und da ich das Haus von jetzt an verlassen durfte, musste ich allen Dingen nachspringen, die Rolf und ich durchgesichtet hatten und bis jetzt in Mäppchen geordnet im Schrank lagen. Auch das machte mir grosse Sorgen, doch nach einem klärenden Gespräch mit Bose, sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Sein Rat: sit and relax! Er nahm mir viel Arbeit hier mit den Behörden ab, liess dabei seine Beziehungen spielen, erledigte Botengänge und ist für mich gerannt. Ich formulierte schriftliche Anträge und so wurde der Pendenzenstapel schnell übersichtlicher. Ich bin sehr dankbar, in der Not auf solche Freunde zählen zu können. Bose hatte sehr früh seinen Vater verloren und so holte er sich all die Jahre oft Rat bei Hans. Aus Dankbarkeit und Respekt ist er mir jetzt behilflich, solange wir noch hier sind.

Überhaupt habe ich erfahren, dass mir als Witwe von „Mr. Hans Muller“ sehr grossen Respekt entgegen gebracht wird. Alle haben mitgetrauert und ich werde jetzt noch von allen getragen, man kommt mir entgegen und ist sehr hilfsbereit. Unglaublich – damit hatte ich nie gerechnet, da hier sonst eine Witwe ein eher kärgliches Dasein fristet. Ohne Mann wird sie in der Schwiegerfamilie nur noch geduldet oder schlimmstenfalls sogar verstossen. Ich sehe erst jetzt, wie Hans hier im Dorf hoch angesehen war und respektiert wurde und dieser Respekt wird auch mir jetzt entgegen gebracht. Ob der Bankmanager, der mich zu Hause besucht, um meine Bankgeschäfte hier zu erledigen, damit ich nicht extra ins Dorf fahren muss oder der einfache Kerosen-Mann, der mir zeigt, wie unser Generator funktioniert. Alle helfen wo sie nur können. Als ich auf der Gemeinde nach dem Totenschein fragte, hatte Bose schon alles eingefädelt, damit sich die richtigen Leute um mich kümmerten und während ich mit dem Gemeindeschreiber eine Tasse Kaffee trank, wurde ein Mann losgeschickt, um das zertifizierte Papier in Varkala zu organsieren.

Am 15. Februar wäre Hans 76 Jahre alt geworden. Wir hatten bereits für diesen Tag geplant, mit Gopikas in die Stadt zu fahren und dort die Armen zu speisen. Dr. Gopika hatte schon lange alles organisiert und geplant und so wollten wir dem Geburtstagswunsch von Hans entsprechen, auch wenn er nicht mehr unter uns war. In einem alten, kleinen, dunklen Bramahnen-Haus in der Nähe vom berühmten Padmanabha Tempel in Trivandrum, wird jeden Tag gratis Essen an die Armen ausgegeben. Das ganze wird von einem Trust geleitet, einige Frauen wechseln sich jeden Tag beim Kochen und Servieren ab und jeden Mittag strömen die Armen herbei für eine kleine Mahlzeit. Wenn spezielle Sponsoren kommen, gibt es ein grösseres Essen und so hatte sich herumgesprochen, dass es am 15. Februar ein richtiges „Sadhya“ - ein Festessen - gibt. Auf Reismatten sassen die Frauen den Wänden ent61lang auf einer Seite, die Männer auf der anderen, davor die Bananenblätter und ich dufte beim Schöpfen helfen. Reis, Dhal, Curries, Papadam, Bananen. In 6 Schichten wurden an die 100 Leute verköstigt. Auch wir assen dort und ich werde gerne wieder einmal ein solches Essen zu einem speziellen Anlass spenden. Mir ging das Herz über, die Leute so glücklich zu sehen. Sie haben sonst wohl nicht mehr viel vom Leben zu erwarten. Da ist ein solches Essen eine mehr als willkommene Abwechslung. Das war ein würdiges Fest und Hans hätte sich bestimt sehr darüber gefreut.

An einem schulfreien Samstag besuchen Savitha und ich die 144 Mädchen im Waisenhaus in Trivandrum. Am 31. Januar feierten sie das 10-jährige Bestehen des Heimes. Zu diesem Anlass wurde das neue Gebäude eingeweiht und Christiane zeigte mir voller Stolz die neue grosse Aula, die Sporthalle, die auch als Musik- und Tanzzimmer benützt wird und das Nähatelier. In einem separaten Block sind noch diverse Abstellräume und die neue Garage für den Schulbus erstellt worden, das Dach dient als zusätzlicher Spielplatz. Zudem wurde auch das Krankenzimmer vergrössert, die Lehrerinnen haben jetzt mehr Platz und auch das Büro wurde leicht verändert. Bald sind alle Arbeiten abgeschlossen und vorerst soll es keine weiteren Ausbauten mehr geben. Während 10 Jahren wurde ständig gebaut, aufgestockt, ausgebaut und erweitert. Doch jetzt hat es genug Platz für alle und alles. Wir freuen uns mit dem Heimleiterehepaar, den Angestellten und Kindern über ihr schönes Daheim.

Natürlich tauchte auch schnell die Frage auf, was mit der Rikscha und unserem Auto passiert. Anfangs gab mir Bose einen Fahrer vom Preeth für mein Auto, doch in der Zwischenzeit habe ich einen eigenen Privatchauffeuer gefunden. Shaji, ein junger Familienvater aus unserem Quartier ist im Moment arbeitslos und so fährt er die Rikscha oder das Auto, wann immer ich ihn brauche. Die erste Fahrt von Savitha und mir in der Rikscha war sehr emotionell. Sogar für Shaji, der Hans natürlich auch kannte und wusste, dass bis jetzt niemand anders hinter dem Steuer sass. Savitha und ich hatten einen ziemlichen Kloss im Hals, als wir losfuhren. Alle Leute im Dorf kennen die einzige rote Rikscha – alle anderen sind schwarz mit einem beigen Streifen und werden als Taxis benützt – und deshalb reckten sie neugierig die Hälse. Sie wollten sehen, wer jetzt die junge Witwe mit dem Mädchen herum kutschiert. Es kam sogar vor, dass Rikschas und Autos zum Überholen ansetzten, dann auf gleicher Höhe mit uns fuhren, nur um einen Blick auf uns zu erhaschen, bevor sie wieder hinter uns her tuckerten. Ein komisches Gefühl. Doch inzwischen geht es gut und mit Shaji bin ich mobil und flexibel. Die Rikscha werde ich wahrscheinlich verkaufen, wenn wir Varkala verlassen, das Auto hingegen behalte ich und werde eine Lösung mit Gopikas zusammen finden.

Geetha begleitete mich oft in die Stadt, wo wir zusammen diverse Ämter aufsuchten, darunter das Home-Department, um offizielle Dokumente beglaubigen zu lassen. Eine sehr aufwändige Angelegenheit, die mit viel Umtrieb und Warterei verbunden war. Auf der Fremdenpolizei habe ich einen Antrag gestellt für ein 1-Jahres Visum. Ich hätte Ende Mai das Land verlassen müssen, aber wenn wir gleichzeitig umziehen wollen, Savitha die Schule wechselt, Valsala heiraten will und wir mit Gopikas auch noch die Pilgerreise in den Norden Keralas machen wollen, wird das etwas viel und so könnte ich den Aufenthalt in der Schweiz gar nicht richtig geniessen, wenn ich mich immer fragen muss, ob zu Hause alles rund läuft. Jetzt bin ich froh, diesen Antrag in die Wege geleitet zu haben und hoffe, dass ich das Visum bekomme. Erst wenn alles geregelt ist und wir uns im neuen Haus eingelebt haben, werde ich voraussichtlich von anfangs Dezember bis Mitte Januar 07 in die Schweiz fliegen. Ich freue mich jetzt schon auf die Adventszeit. Nach 10 Jahren (!) endlich wieder einmal Schnee zu erleben, Weihnachten auf der Lenzerheide mit meinen Eltern zu feiern, auf das neue Jahr mit ihnen anzustossen und dann noch die ersten Januartage geniessen, bevor ich am Jahrestag wieder für eine Pooja hier sein werde. Vielleicht getraue ich mich sogar auf die Skis, sicher aber aufs Eis, lange Spaziergänge dem verschneiten See entlang, einfach mich bei Mami und Papi wohlfühlen, Zeit haben, das vergangene Jahr zu verarbeiten. Natürlich freue ich mich auch darauf, meine Schwester und ihre Familie zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit werde ich ihren kleinen Lukas, der am 6. Januar dieses Jahres geboren wurde, endlich kennen lernen und ich werde ausgiebig mit meiner Nichte Michelle spielen. In Bern werde ich bei Rolf und seiner Ina sein, während ich mich gleichzeitig um ein neues 5-Jahres Business-Visum kümmere.

Mit all diesen Plänen können wir schon wieder positiv in die Zukunft blicken. Im Moment sind wir noch auf Haussuche, doch wir sind zuversichtlich, etwas Passendes zu finden. Gopikas, ihre Verwandten und Freunde schwärmen überall aus und halten Augen und Ohren offen. Vier Objekte haben wir bereits besichtigt. Sollten wir noch nicht das definitive Traumhaus finden, werden wir einfach erst mal in die Nähe von Gopikas ziehen und später können wir uns in aller Ruhe in der Nachbarschaft nach etwas Passendem Ausschau halten.

Wegen Savithas Schule ist schon fast alles geklärt. Sie wird die gleiche Schule besuchen wie Malu und Kunjunni, die Kinder von Gopikas. Somit hat sie dort bereits eine Freundin und da Savitha sehr offen und kommunikativ ist, wird sie sich da schnell einleben und neue Freundinnen gewinnen. Sie freut sich schon sehr darauf. Alles ist spannend, aufregend und neu! Doch im Moment ist sie noch beschäftigt mit den Jahresabschlussprüfungen, die im März stattfinden. Danach nützen wir die grossen Sommerferien für den Umzug und um unser weiteres Leben in die richtigen Bahnen zu lenken.

Bis dahin nehmen wir einen Tag nach dem anderen und sind zuversichtlich und guten Mutes, dass alles gut wird. Savitha meint oft, dass Papa glücklich sei im Himmel, wenn er uns so wursteln sieht hier unten. Er wolle bestimmt nicht, dass wir traurig sind und weinen. Nein, viel lieber fröhlich und lustig, so wie es immer bei uns zu und her ging. Und so machen wir ihm die Freude und haben wieder viel Spass. Er lächelt uns immer vom Bild im Wohnzimmer entgegen, welches uns vom Fotostudio in einem „güldenen“ Plastikrahmen geschenkt wurde, wir sind jeden Abend bei ihm im Garten unter dem Jackfruit-Baum, in der Nacht blinzelt er uns vom Sternenhimmel zu und wenn wir im Geethanjali sind, besuchen wir ihn im Herbal Garden. Er ist uns immer nah und wir wollen, dass er Freude an uns hat. Savitha und ich sind uns auch sicher, dass Gott uns lieb hat, dass er für uns schauen wird und er uns in Zukunft beschützen wird, damit wir unseren Weg auch ohne unseren geliebten Papa schaffen.

In diesem Sinne wünschen wir euch alles Liebe und Gute, Gottes Segen und verbleiben mit herzlichen Grüssen aus dem Drei-Mädel-Haus

Yvonne, Savitha und Valsala