Yvonne Muller

01 March 2007

Februar 2007

Bis vor einer Woche wusste ich wirklich nicht, was ich ausser meiner leidigen Visa-Angelegenheit im Newsletter berichten könnte. Es gab während dem ganzen Monat nur diesen einen Dauerbrenner. Gopikas und ich telefonierten uns die Finger wund, ich rannte Türen ein und weibelte praktisch jeden Tag von Amt zu Amt um die Sache in Delhi in Gang zu bringen. Die grosse Quizfrage lautete: Unter welcher Dossier-Nummer und in welcher Abteilung bin ich beim zuständigen Ministerium in Delhi registriert und wie bewege ich meine Akte wieder in Richtung Trivandrum, bevor sie ganz vergilbt, von den Mäusen angeknabbert wird oder sich sonst in Luft auflöst? Neben der Erledigung meiner Visa-Verlängerung gab es noch ein zweites Problem: Ich muss einen Weg finden, ein neues Visum zu bekommen und gleichzeitig vermeiden, dass ich deswegen im Mai nochmals in die Schweiz zurück fliegen muss. Ich warte jetzt auf die Infos der Indischen Botschaft in Sri Lanka und hoffe, damit wenigstens Erfolg zu haben. Zwischen all der Aufregung war ich deshalb froh, ab und zu lieben Besuch aus der Schweiz zu empfangen, ich kümmerte mich um die Gäste im Geethanjali und konnte so immer wieder Kraft schöpfen, um weiter zu machen. Die Sache ging nämlich ziemlich an die Substanz, da ich unter enormem Zeitdruck stehe. Die Wochen fliegen nur so dahin und der Mai rückt immer näher.

Wir besuchten mit Gopikas und den Gästen zwei tolle Handicraft-Ausstellungen in Trivandrum und bewunderten eine sehr selten gezeigte Form von Kathakali – als Puppentheater. Die Gruppe bestand aus vier Puppenspielern, einem Sänger und einem Trommler. Die Puppen waren alle sehr schön und aufwändig angefertigt – nichts Selbstgebasteltes. Alle Künstler stammten aus traditionellen Kathakali-Familien und hatten schon viele Auftritte im Ausland. Das „Kasperletheater“ lässt sich natürlich leichter transportieren als eine ganze Kathakali-Truppe mit Tänzern, Sängern und Musikanten, den sperrigen und aufwändigen Kostümen und was sonst noch alles dazu gehört.

Und schon begannen die jährlichen Vorbereitungen fürs „Pongala“. Geetha und ich organisierten einen Frauenabend, wo wir alle im Attukal-Tempel unsere Poojas machten, damit wir am 3. März der Göttin Devi unsere Speisen kochen und opfern dürfen. In diesem Jahr werden für die „Frauen-Kocherei“ bis zu einer Million Frauen aus ganz Südindien erwartet. Vor einem Jahr konnten wir wegen dem Trauerjahr nicht dabei sein, doch dieses Jahr lassen wir uns dieses spezielle Spektakel nicht mehr entgehen und erhoffen uns damit für das kommende Jahr alles Gute, Gesundheit und Wohlergehen für die ganze Familie. Wir werden eine grosse Gruppe sein mit Geetha, ihrer Mutter, Tochter Malu, 4 Gästen vom Geethanjali, Savitha und ich, plus Omana, die uns bei den Vorbereitungen hilft. Das Material für die Kocherei ist bereits zusammen gestellt - Reis, Kokosnüsse, Braunzucker, Nüsse, Rosinen, dazu das ganze Brennmaterial, Töpfe und Kochutensilien, alle haben sich neu eingekleidet und die Zimmer im Hotel Lucya sind auch bestellt. Wir freuen uns alle sehr darauf, weil es einfach DAS Frauenfest des Jahres ist und auch wenn ich bereits zweimal dabei war, ist es doch jedes Mal ein spezielles Ereignis.

Am 23. Februar begann das jährliche Tempelfest gleich gegenüber von unserem Haus. Wir stellten uns darauf ein, dass es sehr laut wird, erwarteten aber nicht, dass der Trichterlautsprecher direkt auf unser Haus gerichtet wird! Es war der absolute Horror! Wir wurden während 10 Tagen voll zugedröhnt und das 22 Stunden im Tag! Wir liessen alle Fenster und Türen geschlossen, stöpselten unsere Ohren und liessen die Ventilatoren auf Hochtouren laufen. Wegen der Hitze in den gestauten Räumen und natürlich auch, um den Lärm draussen etwas zu dämpfen. Savitha schickten wir schon am Vorabend vor dem Start des Festes zu Gopikas. Sie musste sich auf die Jahresabschlussprüfungen vorbereiten und das hätte sie zu Hause nicht tun können. Schön, so tolle Freunde in der Nähe zu haben! Valsala nahm sich auch immer wieder eine Auszeit und besuchte Freunde in der Nähe oder ging das eine oder andere Mal mehr ins Dorf zum Einkaufen, um dem Lärm wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Ich hatte zu Hause viel zu tun, doch es war schwer, sich vor dem Computer zu konzentrieren, trotz den Lärmschutzmassnahmen. Die Musik war dermassen grell und durchdringend, dass es kaum zum Aushalten war. Und so war auch ich um jede Abwechslung ausser Haus froh. Ich flüchtete immer wieder zu Gopikas und sass gemütlich mit den Gästen zusammen, besuchte Marion im Wild Palms, wo es herrlich ruhig war oder war in der Stadt unterwegs.

Die OUR Public School lud mich als Ehrengast zum „Annual Celebration Day“ ein. Diese kleine Privatschule wurde vor 3 Jahren im Beisein von Hans und mir eröffnet. Seither unterstützen wir die Schule und übernehmen jedes Jahr das Schulgeld für zwei Schüler, deren Eltern die Ausgaben dafür nicht aufbringen können. Ich wurde gebeten, die Preise an die Schüler zu verteilen und davor richtete ich noch ein paar Worte an die Eltern und ihre Kinder. Die ganze Schule erwies Hans vor einem Jahr die letzte Ehre, bevor er nach Hindu-Riten verbrannt wurde, was mich sehr gerührt hatte. Ich möchte auch in Zukunft diese Schule weiterhin unterstützen, wie es mir im Rahmen der Merlotscha Foundation möglich ist. Ich durfte Medaillen umhängen, verteilte Zertifikate an die Schüler und Geldpreise, kleine Plastiktrophäen und alle freuten sich sehr. Zum Teil waren die Kinder bereits geschminkt und warteten in Tanzkostümen auf ihre Auftritte nach der offiziellen Feier, um den Eltern ihre Darbietungen vorzuführen.

Über das letzte Februar-Wochenende flüchtete ich vor der lauten Musik nach Cochin. Ich fuhr am Samstag nach Alleppey, wo die Schweizerin Maria ein traumhaftes kleines Resort direkt am See führt. Ich hatte ihr diesen Besuch schon seit über einem Jahr versprochen, doch die Zeit rannte mir davon und ich musste den Termin immer wieder verschieben. Es war schön, mich wieder einmal ausgiebig mit ihr auszutauschen und natürlich gab es viel zu erzählen. Sie war damals auch bei der Beerdigung und war überrascht, wie gut es mir geht, wie toll ich aussehe, wie ich mein Leben neu organisiert und gemeistert habe und mich durchsetze.

Danach holte mich Daniela mit ihren Freundinnen und den Kindern ab und wir fuhren nach Cochin. Ein unvergessliches Wochenende stand mir bevor und ich genoss die Abwechslung vom traditionellen „village life“ zum mondänen Stadtleben mit Parties, Barbeques, Shopping, den Annehmlichkeiten des 5-Sterne-Hotels Le Meridien und Häuserbesichtigungen. Am Sonntag abend waren wir zu einer ganz speziellen Party eingeladen. Ein 38-stöckiger Wolkenkratzer ist in Cochin geplant – das höchste Haus in ganz Südindien. Wir durften eine Musterwohnung besichtigen, die potentielle Käufer animieren soll, zu investieren. Wow, das war umwerfend! Der Grundriss einer 4 ½ Zimmer Wohnung mit einer absolut perfekten Innendekoration. Vom Serviettenring auf dem gedeckten Tisch bis zur Seife im Bad war alles vom Exklusivsten und passte farblich und stilsicher zusammen. Im exklusiven Tower wird es vier Penthouse-Etagen geben, natürlich eine riesige Poolanlage mit Kinderpool, einem Becken für die Frauen und einem Familienpool mit Poolbar, Fitnesscenter, Kosmetiksalon, Clubhaus und was sonst noch alles dazu gehört, damit es den Schönen und Reichen gefällt. Der Eigentümer organisierte die Party im Clubhaus auf seinem Geschäftsgelände. Sein Büro liegt mitten in einer riesigen Parkanlage direkt an einem Backwatersee, der mit dem Meer verbunden ist. Eine riesige Yacht dümpelte beim Anlegesteg, Gästebungalows mit Pool stehen seinen Geschäftsfreunden zur Verfügung, die Seminar- und Konferenzräume und sein Büro – alles im aufwändig schönen Keralastil – mitten in einem tropischen Garten mit künstlichem See. Gigantisch. Die Familie stammt aus Kerala, pendelt aber zwischen New York und Cochin hin und her. Für mich als „Landei“ war das schon prächtig, auch wenn ich mir keine solche Traumwohnung wünsche. Nein, mir gefällt mein überschaubares Leben am Stadtrand von Trivandurm und ich habe ja alles, was ich brauche um glücklich zu sein. Savitha ist mein Sonnenschein, mein kleines Häuschen ist meine Burg, ich habe Valsala, die sich um den Haushalt und das ganze Drumherum kümmert, die beiden Hunde Jonny und Jimmy bewachen uns und ich habe Gopikas in der Nähe – meine indische Familie. Dazu viele Freunde und die Gäste, um die ich mich kümmere. Es geht mir wirklich gut und ich bin mehr als zufrieden.

Dank dem Wochenende in Cochin hat sich wieder ein Türchen geöffnet wegen meinem Visum und ich hoffe jetzt ganz fest, dass sich nun endlich etwas bewegt und meine Papiere in Ordnung kommen, so dass ich danach ein neues Visum beantragen kann - und das möglichst in Sri Lanka, um eine zweite Reise in die Schweiz zu vermeiden. Von hier aus werde ich jedenfalls nie mehr etwas in die Wege leiten...

Bevor ich wieder nach Hause fuhr, genossen Daniela und ich noch einen letzten gemeinsamen Lunch am Hotelpool vom Meridien. Die Fahrt im überfüllten „3. Klasse“-Zug nach Trivandrum war ein ziemlich krasser Übergang in den indischen Alltag. Aber es war spannend und ich war froh, dass ich den Zug überhaupt noch erwischt habe. Da kann man sich sonst immer auf Verspätungen von Zügen aus dem Norden verlassen, doch genau an diesem Tag war er pünktlich in Cochin. Ich hüpfte mit zwei Inderinnen in Saris über die Bahngleise, um den Zug noch in letzter Sekunde zu erwischen. Was die können, kann ich schliesslich auch und da stand ich dann eingepfercht zwischen Männern mit meinem Trolley. Nur wenige Frauen waren im Abteil, aber alle waren müde und es blieb ruhig im Zug. Es wurden weder Hühner noch Ziegen transportiert – gibt es in Kerala kaum – also eine ganz normale Zugfahrt. Nach einer Stunde fand ich ein Plätzchen, wo ich wenigstens eine meiner beiden Pobacken auf die harte Holzbank setzen konnte und je weiter wir nach Trivandrum kamen, desto besser wurde es. Auf den 4-er Bänken zwängten sich immer mindestens 6 Personen nebeneinander, auf den 1-er Bänken auch immer zwei und oben sassen sie im Schneidersitz und dösten oder meditierten, während ein paar wenige sich genüsslich ausstreckten und die ganze obere „Etage“ für sich alleine beanspruchten. Es wimmelte von verschrumpelten, alten, vertrockneten Füssen, Lunghis und Dothis wurden 100x fixiert, Beine baumelten einem vor dem Gesicht – doch niemand störte sich an seinem Nachbarn neben oder über einem. Und so zuckelten wir vier Stunden lang vorbei an Reisfeldern, Palmenhainen, Backwaterseen und einfachen Hütten.

Zu Hause erwartete mich wieder der Tempellärm, doch irgendwie überstand ich auch noch die letzten Tage und wir alle freuten uns, bis in unserem Quartier wieder Ruhe einkehrte. Wir wohnen nämlich an einer Nebenstrasse ohne Verkehr und es ist normalerweise angenehm ruhig und die Tempelgebete am Morgen und am Abend stören uns nicht, weil wir uns schon so daran gewöhnt haben.

Ich habe einen wirklich sehr anstrengenden Monat hinter mir und hoffe, dass ich nun in absehbarer Zeit mein Visaproblem lösen kann und einen Weg aus dem Wirrwarr finde, damit wieder ruhigere Zeiten einkehren. Der Druck ist enorm und sorgt oft für schlaflose Nächte.

Seid alle herzlich gegrüsst

Yvonne