Dezember 2007
Zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember startete der Monat mit einem Konzert von Hariharan im Openair-Auditorium in Trivandrum. Bisher war mir Hariharan nicht bekannt, doch in der nordindischen Musikszene ist er offensichtlich eine grosse Nummer und seine Fans tobten. Die Musik wäre ein Ohrenschmaus gewesen, doch wieder einmal mehr leider viel zu laut, so dass wir das Konzert frühzeitig verliessen, um die Gesundheit von Ina und Gabi nicht zu gefährden. Schade, dass man hier eigentlich nur klassische Konzerte in normaler Lautstärke hören kann. Alles andere lässt einem das Trommelfell platzen. Trotzdem haben wir den Abend genossen und gingen danach noch Paper-Doshas essen, was bei den Gästen immer gut ankommt – man bekommt schliesslich nicht jeden Tag ein Essen mit einem Meter Durchmesser aufgetischt!
In den ersten Dezembertagen kam der Maler nochmals vorbei um die Dachterrasse neu zu streichen. Vom Monsun hatten sich überall schwarze „Schnäuze“ gebildet und der kahle Betonboden störte mich schon lange. Nach drei Tagen erstrahlte alles in frischem weiss und der Boden glänzt jetzt in „cherry-red“ und sieht richtig toll aus. Alle Renovationsarbeiten wollte ich fertig haben, bevor mein Bruderherzchen Rolf eintraf und er war auch wirklich sehr angetan von unserem kleinen Frauenhaus. Er war vor zwei Jahren dabei, als ich die ersten Häuser in der Umgebung besichtigte und deshalb war er ganz besonders gespannt auf unser neues Daheim.
Die 12. Internationalen Filmfestspiele wurden wieder im Nishagandhi-Auditorium unter freiem Himmel eröffnet. Nach all den Reden und einer grossartig choreografierten Volkloreshow wurde der Premierenfilm gezeigt. Das Meisterwerk einer 19-jährigen Filmemacherin aus Afghanistan. Sehr eindrücklich, sehr feinfühlig und sehr berührend. Das Publikum war hingerissen. Dr. Gopika ist ein grosser Filmfan und er fand in Ina eine Gleichgesinnte, die seine Begeisterung teilte. Ina wäre am liebsten jeden Tag ins Kino gegangen, doch ihre Kur ging vor. Trotzdem kam sie auf ihre Kosten. Ina, Rolf und ich wollten uns einen Schweizerfilm ansehen und entschieden uns für „I was a swiss banker“, schliesslich hört man nicht alle Tage unseren Bündner-Dialekt auf einer Leinwand in Südindien! Der Film begann vielversprechend, doch dann artete er dermassen aus mit Sexszenen, dass es uns richtiggehend peinlich war, als einzige Ausländer im Kino zu sitzen und erst noch als Schweizer! Wie waren wir froh, dass Gopikas und die Kinder nicht dabei waren! Auf diese Männerfantasien hätten wir gut verzichten können. Als wir draussen auf unser Taxi warteten, kam ein junger Journalist auf uns zu und fragte, woher wir seien und wollte unsere Meinung über den Film hören. Wir waren uns schnell einig, dass der Streifen hier fehl am Platz war. Völlig unangebracht sogar! Später erfuhren wir aber, dass es bei weitem nicht der einzige Film war mit solchen Szenen und dass es üblich ist, dass während den Filmfestspielen durchaus solche Filme gezeigt werden können und das natürlich unzensuriert. Zudem gibt es ja eine Jury, welche die Filme aus der ganzen Welt zusammenstellt. Kinder unter 18 Jahren sind jedoch nicht zugelassen. Auch bei der Award-Verleihung waren wir wieder dabei, haben uns den Siegerfilm aber nicht angeschaut, weil Rolf und ich die einzigen in unserer Runde waren, die den Streifen noch nicht gesehen hatten. Auch der war ziemlich gewagt – er handelte von einer Geschlechtsumwandlung eines 15-jährigen Mädchens in einen Jungen. Trotzdem war es ein tolles Ereignis gewesen und jedes Jahr zieht das Festival mehr Filmliebhaber an.
Mit Rolf verbrachte ich vier unvergessliche Tage in einem gediegenen Resort in Kovalam. Die Tage haben ihm nach dem vielen Stress zu Hause gut getan und während seine Ina noch immer ihre Kur genoss, kam er langsam ins Ferienfeeling. Wir verbrachten ruhige Tage am Pool, liessen uns am Abend jeweils kulinarisch verwöhnen, schwelgten in Kindheitserinnerungen und es ging bis tief in die Nacht hinein lustig zu und her in unserem Zimmer. Am Morgen in der Früh beobachteten wir jeweils die Fischer, wie sie ihre Netze mühselig an Land zogen und der bescheidene Fang von den Frauen erwartet wurde. Wie an einer Börse wurde der Tagespreis festgesetzt und die Frauen meldeten sich lautstark, wetterten und forderten tiefere Preise. Sie bezahlten die Fische, füllten ihre Alugefässe und trugen sie in die Quartiere oder auf den Markt zum Verkauf. Für uns ein spannendes und fotogenes Spektakel - für die Frauen ein harter Kampf um das tägliche Einkommen. Wieder einmal mehr prallen hier zwei Welten aufeinander. Auf der einen Seite das angenehme Nichtstun der Touristen im Luxushotel und auf der anderen Seite das Los der Einheimischen, um ihre Familien zu ernähren.
Bereits zum 3. Advent wurde mein grosses Weihnachtsgeschenk installiert. Rolf beriet mich beim Kauf eines neuen Computers und der Techniker hat am folgenden Tag innerhalb zwei Stunden alles installiert, so dass ich am Abend bereits per Skype in die Schweiz telefonieren konnte. Ich freute mich riesig, da ich mich nicht mehr auf die alte Kiste verlassen konnte. Jetzt geniesse ich den grossen Flachbildschirm und die Leistung ist besser und schneller. Einen Laptop brauche ich nicht, weil ich dafür zu wenig herum reise. Aber eine gute Homestation war wirklich nötig, um meine Arbeit zu erledigen.
Ina und Rolf quartierten sich nach Inas Kur im nahe gelegenen Gästehaus „Wild Palms on Sea“ ein, wo unsere Gäste oft vor oder nach der Kur noch ein paar ruhige Tage am Meer geniessen. Während Savitha noch mitten in den Weihnachtsprüfungen war, machte ich mit den beiden einen Ausflug nach Kanyakumari, an die Südspitze Indiens. Shibu war unser zuverlässiger Fahrer und ich fungierte als Reiseleiterin, da ich die gleiche Route schon einmal vor Jahren erlebte. Damals mit Hans und Savitha, Familie Gopika und einem Kurgast.
Auf dem Weg in den Süden besichtigten wir den berühmten Padmanabhapuram-Palast, der schönste und grösste Holzpalast in ganz Indien. Die typische Kerala-Architektur ist einzigartig und wir waren begeistert vom ineinander verschachtelten Palastareal mit allen Räumen, die besichtigt werden konnten. Vom kulturellen Vorführraum, wo der Maharaja mit seiner Familie hinter einer geschnitzen Holzwand durch winzige Gucklöcher dem Geschehen auf der Bühne zuschauen konnte, ohne sich den Blicken des Volkes auszusetzen, bis zum Schlafgemach des Herrschers. Wir waren beeindruckt von all den Räumen, den aufwändigen Holzschnitzereien – ein bemerkenswertes Juwel der Kerala-Baukunst.
Der eigentliche Grund, warum wir in den Süden wollten, war die Besichtigung von Valsalas neuem Zuhause nach der Hochzeit. Wir haben alle zweimal leer geschluckt, als wir ihr kleines Reich betraten. Das Häuschen ist nicht grösser als meine kleine Küche und mein Esszimmer zusammen. Einer hohen Mauer entlang zieht sich eine kleine Gasse mit Reihenhäuschen. Ihres ist putzig angestrichen in mint mit dunkelblauen Fenster- und Türrahmen und einer „Stalltüre“. Das Mobiliar im Wohnzimmer bestand aus drei Plastikstühlen, einem Stuhl von meiner ehemaligen Polstergruppe und einem Salontischchen. Ein kleiner Durchgang, der als Abstellraum dient, führt in die Küche. Auf zwei Holzfeuerstellen und einem einflammigen Kerosenofen wird gekocht. Neben der Kochnische eine halbhohe Mauer, dahinter steht mein altes Doppelbett aus Varkala. Von hier aus hat man eine schöne Aussicht auf ein Reisfeld, nur wimmelt es jeweils von Mücken und wegen dem Flachdach wird es unerträglich heiss im Haus. Die Toilette ist im Nachbarhaus untergebracht und ist über den minimunzigen Hinterhof zu erreichen. Zudem sind die Räume sehr niedrig. Kein fliessendes Wasser und nur drei Neonröhren bringen etwas Licht in die dunklen Räume. Trotzdem hat Valsala alles sehr heimelig eingerichtet – mit vielen persönlichen Dingen dekoriert und praktisch alles war mir bekannt. Von meinem ehemaligen Saunatuch aus Berner-Zeiten, über Fotos von unserer Familie, ausrangierten Nippes, alten Reisetaschen, Geschirr, bis zum WC-Deckel-Überzug, der jetzt als Bodenteppich dient, hat sie alles aus den fünf Jahren bei uns aufbewahrt. Sie bezahlen 13 Euro Miete im Monat, versuchen aber, ein neues Häuschen zu bekommen. Sie haben etwas in Aussicht, doch das kostet gleich über das Doppelte und bei einem Monatseinkommen von 53 Euro ist das eine grosse Belastung. Zudem ist Valsala seit 1 ½ Monaten schwanger, was sie uns voller Freude erzählte. Trotz der einfachen Bleibe tischte sie uns ein herrliches Chicken-Curry auf. Es freut mich sehr, dass es ihr soweit gut geht, dass ihr Mann ein regelmässiges Einkommen hat, Valsala gut behandelt und wenn sie in ein grösseres Häuschen umziehen können, bevor das Baby kommt, wird ihr kleines Glück hoffentlich perfekt sein.
Trotz grossem Pilgerandrang fanden wir am Nachmittag ein schönes Hotelzimmer in Kanyakumari, unserem Tagesziel. Im Moment ist Hochsaison am Cape Comorin und es wimmelte nur so von Sabarimala Pilgern, die in schwarze Hüfttücher gewickelt waren. Zudem trifft man hier Leute aus ganz Indien, denn jeder Hindu wünscht sich, einmal im Leben seinen Fuss an die Südspitze gesetzt zu haben, wo die Asche von Gandhi dem Meer übergeben wurde. Hier trifft der Indische Ozean auf den Bay of Bengal und die Arabische See. Auf der Wasseroberfläche sieht man keinen Unterschied, doch die Farbe des Sandes ist verschieden. Weiss, braun und schwarz. Wir liessen uns noch am selben Nachmittag mit dem letzten Boot zum Vivekandana-Felsen hinüber setzen, wo dem indischen Phylosophen 1970 ein Denkmal gesetzt wurde. Ein Führer erzählte uns von der Wucht des Tsunami vor 3 Jahren, als die Welle die Schulter des 40 Meter hohen Monuments berührte, nachdem sich das Meer vorher zurück gezogen hatte und der Felsen, der 400 Meter vom Festland entfernt ist, trocken lag, was es noch nie gegeben hatte. Das Besondere an der Südspitze ist, dass man vom gleichen Punkt aus den Sonnenaufgang – wie den -untergang sehen kann. Doch wir sahen weder das eine noch das andere, weil der Himmel ziemlich verhangen war. Dafür hatten wir extrem angenehmes Reisewetter und so stimmte es für uns auch ohne Sonne.
Am nächsten Tag machten wir wie alle anderen unseren Geschenkebummel durch all die Jahrmarktstände und deckten uns ein mit „Gingernillis“ für die lieben Daheimgebliebenen, bevor wir die Rückfahrt antraten. Bei einem berühmten Hanuman-Tempel liessen wir uns durch die Tempelanlage führen, doch für eine Pooja blieb keine Zeit, da der Führer uns im Eiltempo durch das Gedränge lotste. Interessant war es aber allemal.
Ind und Rolf verbrachten noch zwei Tage in den Backwaters. Sie übernachteten auf einem Hausboot und fuhren am nächsten Tag mit dem Touristenboot von Alleppey nach Quilon. Die beiden Tage waren ziemlich abenteuerlich und Rolf meinte lachend, dass ohne Yvonne als Tour-Guide eben nicht immer alles so planmässig verlaufe...
Ich kümmerte mich derweil um die Gäste und Savitha hatte nun endlich ihre Prüfungen hinter sich und genoss die wohlverdienten Weihnachtsferien. Sie hatte schon voller Vorfreude eine Woche vor Weihnachten den Baum geschmückt. Anstatt in der zwar originellen aber wenig gemütlichen Wohnhalle zu feiern, entschieden wir uns für die Dachterrasse, bei 28°, so quasi unter Palmen im exotischen Ambiente. Savitha hatte alles grosszügig dekoriert, so dass es für Weihnachten, Silvester und Fasching gereicht hätte, viele kleine Öllämpchen wurden angezündet, wir hörten traditionelle Weihnachtslieder, sangen dazu, es gab „Kinder-Champagner“ mit Nüssli und Chips und wir beschenkten einander. Ein feierliches, aber auch lustiges Fest und es bedeutete mir sehr viel, dass Savitha und ich nicht alleine waren, schliesslich war es die erste Weihnacht ohne Hans in unserem neuen Häuschen.
Eine Stunde vor der Bescherung kam mein grösstes Weihnachtsgeschenk per Anruf aus Delhi. Meine Visaverlängerung wurde bewilligt! Halleluja!!! Der Abschlussrapport wird in den nächsten Tagen geschrieben und danach muss ich nur noch sehen, dass das Dossier so schnell wie möglich nach Trivandrum zurück kommt, damit ich hier nochmals die letzten drei Ämter abklopfen kann, bevor ich endlich auf der Fremdenpolizei den langersehnten Stempel in meinen Pass bekomme. Ich freue mich riesig, dass nun alles auf gutem Wege ist und hoffe auf ein baldiges Ende dieser unendlichen Story...
Nach einem gemütlichen Dinner im Hotel „South Park“ in Trivandrum besuchten wir die Mitternachtsmesse in der St. Josephs Kathedrale. Die Messe wurde wie immer vom Erzbischof zelebriert und live von allen Fernsehstationen übertragen. Wie jedes Jahr war es sehr stimmungsvoll, nur waren wir vom langen Tag müde und erschöpft und deshalb froh, als wir gegen 03.00 Uhr endlich in unsere Betten fielen.
Am zweiten Weihnachtsabend fuhren wir zum Sunset an die Kovalam Beach, wo es nur so wimmelte von einheimischen Familien. So viele Inder habe ich an der berühmtesten Beach von Kerala noch nie gesehen! Sonst sind die Ausländer immer in der Überzahl, doch heute gingen die rot verbrannten Bleichgesichter völlig unter in der dunklen Masse. Nachdem uns Shibu endlich aus dem Verkehrsstau raus hatte, fuhren wir ins „Thapovan Heritage Resort“ zu Andreas, der uns zu einem grossartigen Flötenkonzert eingeladen hatte mit anschliessendem Dinner an der Beach. Es wurde ein amüsanter Abend, wo wir auch die Gäste vom Geethanjali dabei hatten - Ruth aus Stuttgart und Gérôme aus Genf.
Kurz nach Weihnachten hiess es Abschied nehmen von Ina und Rolf, doch wir werden uns hoffentlich schon bald wieder sehen. Sobald ich den Stempel für die Visa-Verlängerung habe, fliege ich für 4-5 Wochen in die Schweiz, um auf der Indischen Botschaft wieder ein 5-Jahres-Business-Visa zu beantragen. Damit sollte dann dieses Thema für eine Weile abgehakt sein. Natürlich hoffe ich auf viel Schnee auf der Lenzerheide zum Skiffahren und Schlittschuhlaufen (es hat mich im letzten Jahr total gepackt!) und werde dann vielleicht bis Ostern bei meinen Eltern bleiben und meine Ferien geniessen. Aber noch ist alles offen und planen kann ich erst, wenn die Visa-Papiere in Ordnung sind.
Ein letztes Highlight des Monats wartete noch auf uns. Nein, nicht Silvester, dafür am 30. Dezember die 1. Kommunion von Thaniya, der 10-jährigen Tochter von Gopikas engsten Freunden. Thaniya sah hinreissend aus in ihrem weissen Spitzentraum mit Tüllschleier, den Verwandte aus London geschickt haben. Die Feier fand morgens um 06.00 Uhr (!) in der Kirche statt, danach gab es für alle Frühstück im Haus der Familie. Bis zum Mittagessen waren wir im Geethanjali und gingen erst zum Lunch wieder hinüber, wo alle Verwandten, Freunde und Nachbarn zu einem feinen Chicken-Curry eingeladen waren.
Nach all den grossen Feierlichkeiten und anderen Unternehmungen, war es uns grad recht, dass wir an Silvester zu Hause blieben. Besser gesagt, ich fuhr mit Shibu zum Flughafen und erwartete Annakutty um 20.00 Uhr, die zur Kur ins Geethanjali kam. So wurde es auch fast Mitternacht, bis ich wieder zu Hause war, wenn auch ohne Festessen, Tanz und Champagner.
Damit ging ein ereignisreiches und schönes Jahr zu Ende, wenn es auch wegen der Visasache viel Nerven kostete. Es gab viele herausragende Highlights, nette Begegungen, viel Freude Ich kann mir für das neue Jahr nur wünschen, dass es so weiter geht. Ich geniesse mein privilegiertes Leben hier sehr, Savitha und ich sind ein gutes Team und wir werden lieb von Shashi umsorgt. Es ist ein schönes Gefühl, einen Teil der Familie Gopika zu sein und meine Aufgabe mit den Gästen ist mehr ein Hobby als Arbeit.
Ich wünsche euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr, viel Freude, Glück und Gesundheit im 2008 und dass es uns allen gut gehen möge.
Liebe Grüsse und bis im neuen Jahr...
Yvonne und Savitha