Yvonne Muller

01 November 2009

Oktober 2009

Der „Tag der Deutschen Einheit“ fiel in diesem Jahr auf den ersten Samstag des Monats, wo im Goethe-Zentrum immer ein Film gezeigt wird. Da Shashi am Abend nicht bei Savitha sein konnte, begleitete sie wohl oder übel Dr. Gopika, Ute und mich, was ihr zurerst überhaupt nicht passte – sie ist halt ein Stubenhocker. Der schwarz/weiss-Film „Eins, Zwei, Drei“ von Billy Wilders aus den 60-er Jahren fand sie jedoch super lustig zum Thema West/Ostberlin mit Liselotte Pulver und dem jungen Horst Buchholz, mit dem ich als Kind im Sandkasten spielte, da die Familie ein grosses Haus auf der Lenzerheide besass. Es wurde ein gelungener Abend und Dr. Gopika und ich sind inzwischen Mitglieder vom German-Film-Club, so dass wir uns sicher regelmässig an unserem Kinoabend erfreuen werden, wo selbstverständlich auch Geetha und die Gäste immer herzlich willkommen sind.

Shashi war derweil schon gross mit den Vorbereitungen für das Mittagessen am nächsten Tag bei ihr zu Hause beschäftigt, da sie die beiden frisch vermählten Nichten mit ihren Ehemännern eingeladen hatte, plus Savitha und Mama. Das kam uns sehr gelegen, da uns sonst Amma mit einem Besuch „beglückt“ hätte. Das Verhältnis zwischen Savitha und ihrer Mutter ist im Moment sehr angespannt, was Savitha gesundheitlich nicht bekommt. Ihr Immunsystem ist relativ schwach und wenn nebst der Schule noch Störfaktoren anfallen, ist sie sehr anfällig für Kopf- oder Bauchschmerzen, Fieberschübe oder Erkältungen.
Ajitha ist glücklich mit ihrem neuen Ehemann und sie mag ihre Schwiegermutter wie auch die übrige Familie sehr und wird akzeptiert. Schlechter sieht mit Ashwathys Situation aus, die im September mit einem blinden Mann verheiratet wurde. Sie verliess Mann und Schwiegerfamilie und meldete sich erst nach Tagen bei ihren Eltern. Die wollten sie wieder zurück schicken, doch die Schwiegerfamilie war nicht mehr bereit sie aufzunehmen. Und jetzt? Die eigene Familie hat sich wegen der Hochzeit dermassen verschuldet, obwohl sie keine Mitgift aufbringen musste, dass sie ihre Tochter nicht mehr zu Hause haben will und eine zweite Hochzeit liegt finanziell absolut nicht drin. Zudem – welcher Mann will schon eine davongelaufene Frau heiraten? Sie Situation wird im Moment totgeschwiegen...

Ute buchte mich für eine Shopping-Tour und Geetha begleitete uns, da sie sich nach Matratzen für das SMSS Waisenhaus in Trivandrum umschauen wollte. Und aus dem Nichts wurde gegen Abend noch eine Grossaktion gestartet. Geetha und Shibu fanden die passenden Matten, der Preis wurde extra ohne mich ausgehandelt und sie hatten sogar 50 Stück auf Lager. Ein kleiner Pick-up wurde beladen und da wir gar nicht vorbereitet waren, konnten wir nicht mal das Waisenhaus avisieren und überraschten sie während dem abendlichen Prayer. Nach der Andacht haben wir die Matten offiziell übergeben und zu Weihnachten bekommen auch die restlichen 50 Girls eine Matte, damit alle weich schlafen und süss träumen können. Bis jetzt schliefen sie auf harten Metall-Kajütenbetten oder am Boden auf Reismatten. Sie freuten sich riesig, strahlten um die Wette, hielten uns an den Händen, führten uns durch ihre Räume und wir wurden 100x nach unseren Namen gefragt, weil sie sonst kaum ein Wort Englisch sprechen. Meine Malayalam-Brocken kamen deshalb gut an.

Da Ute alleine kurte, war ich viel bei ihr drüben im Geethanjali – ob zum Mittagessen, zum Tee oder auch mal für einen Strandspaziergang und ich zeigte ihr das Dorfleben rund ums Geethanjali herum. All die kleinen Shops wo man alles für den täglichen Gebrauch bekommt, wo man als Tourist jedoch kaum die Nase hinein streckt, weil man ja nichts davon braucht. Und trotzdem ist es spannend zu sehen, was die Leute zu Hause benützen, womit sie sich ihr Daheim verschönern oder all die Küchenutensilien. Vom etwas eigenartig aussehenden Gebäck in der Bakery über die kleinen Teeshops, wo sich die Männer nach getaner Arbeit zu einem Schwatz treffen, die Mühle, wo gerade Kokosöl gepresst wurde und wir wegen dem Chillistaub husteten. So was ist oft viel interessanter als grosse Sightseeing-Touren von Tempel zu Tempel und von Palast zu Palast. Das ist das indische Leben der Einheimischen auf dem Land, ihre Strasse, ihr Alltag, ihre kleine Welt. Wir verbrachten auch unterhalsame Nachmittage in der Stadt und fuhren bis nach Varkala. Dr. Gopika nahm uns mit in den Veli-Park, wir besuchten einen Tempel und wurden zum arabischen Essen eingeladen.

Auf den 17. Oktober freuten sich die 8 Mädchen vom Waisenhaus St. Joseph/Sai Maa in Trivandrum schon lange. Ich kenne den Sponsor von Pradeesha und Jessy, der mich bat, seinen beiden Patenkindern und den Mädchen aus ihrer Gruppe einen schönen Tag zu bieten. Savitha wollte uns begleiten, doch die Schule machte uns mal wieder einen Strich durch die Rechnung und sie hatte den ganzen Samstag Tuition.
Wir fuhren mit zwei Autos zu einem Textilhaus in der Stadt, wo alle neu eingekleidet wurden. Hei, das war für die Mädchen wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zusammen! Es war auch für mich eine Freude zu sehen, wie sie sich mit leuchtenden Augen alles in Ruhe ansahen, sich das ganze Sortiment zeigen liessen, alles befühlten, anprobierten, abwogen und sich dann schlussendlich für etwas entschieden. Die Mädchen schwelgten! Zudem hatte es nicht viel Kundschaft und ein sehr nettes Verkaufsteam kümmerte sich um uns, so dass alle ihre Traum-Röckli, -Churydars oder -Lajas fanden...
Ich war absolut fasziniert, wie diszipliniert alle sind. Da wird nicht herum gerannt, geschrien, gestritten oder gar gezankt. Es herrscht eine harmonische Ruhe und Ordnung. Und nicht etwa wegen der Schwester, sondern einfach, weil es normal ist. Im Auto sprachen sie leise miteinander oder schauten dem Treiben draussen zu und wenn ich mich mit der Schwester unterhielt, waren sie ruhig.
Weiter ging es in Richtung Süden nach Poovar, wo wir an einem Backwaterarm in ein Motorboot umstiegen und zu einem Resort gefahren wurden. Dort gab es für alle Chicken und Pommes und zum Dessert Erdbeereis. Die Mädchen waren total happy. Während ich noch die Rechnung bezahlte – schwup - waren alle Mädchen samt ihren Kleidern im kleinen Pool! Oje, das war nicht geplant, da ich vom Gästebetreuer wusste, dass sie nur in korrekten Badeanzüge in den Pool dürfen, was ich auch richtig finde. Ist auch bei den zahlenden Gästen immer ein Problem, da die Inder meist keine Badesachen haben und trotzdem in den Pool wollen. Ein Wink genügte und alle waren sofort draussen. Kleider und Haare trockneten rasch im Wind.
Das Resort offerierte uns eine Bootsfaart mit einem alten Holzlastkahn. Das war zwar lieb gemeint, doch die Mädchen fühlten sich nicht richtig wohl – auch nicht mit den Schwimmwesten, weil die jetzt nach dem grossen Bootsunglück in Thekkady obligatorisch sind. Trotzdem war es eine herrliche Fahrt gewesen, wie wir langsam der Insel entlang zu einem Backwaterarm gestakelt wurden, die Palmenhaine rechts und links vom Ufer, Kinder, die uns zuwinkten und im Wasser plantschten oder am Ufer spielten. Und so ruhig, dass wir nur die Vögel hörten. Absolut idyllisch. Doch alle stiegen am Schluss gerne wieder ins Motorboot um, welches uns zurück zum Anlegesteg brachte, wo wir uns verabschiedeten. Die Mädchen haben den Ausflug sehr genossen, war es doch für alle ein herrliches Erlebnis ausserhalb ihrem Heimalltag gewesen und mir hats auch viel Spass gemacht.

Savithas 18. Geburtstag am 24. Oktober feierten wir einen Tag später bei einem feinen Lunch im offenen Restaurant neben dem Pool vom Leela Hotel in Kovalam. Ursprünglich wollten wir für eine Nacht in Poovar bleiben und dort feiern – wäre sehr speziell gewesen und wir haben uns auch schon darauf gefreut, doch wegen der Tuition liessen wir es eben sein – es wird wohl seinen Grund gehabt haben... Jetzt ist meine Maus bereits 18 und sie freute sich sehr auf dieses Datum und meinte, sie müsse sich nun nicht mehr an die Vereinbarungen mit Amma halten und könne von jetzt an selber über ihr Leben entscheiden. Das ist zwar rechtlich so, doch die Praxis sieht hier anders aus. Falls es tatsächlich mal hart auf hart kommen sollte, hat die Mutter weiterhin das Sagen und ihr Wort gilt mehr als jenes von Savitha. Ist halt hier so und mich fragt eh niemand...

Das Monatsende liess ich in Cochin bei Daniela ausklingen. Das war wie zwei Tage Europa! Ich fuhr mit Dr. Gopika und Geetha hin, die es weiter nach Guruvayoor zum Beten zog. Ich klinkte mich aus, Danielas Fahrer holte mich im Meridien ab und chauffierte mich in ihr neues Haus. Wow – ich war überwältigt! Die Frau hat einen extrem guten Geschmack und hat alles selber designed. Die Aufteilung der Räume, die Innenausstattung wie auch die Möbel. Absolut umwerfend. Alles sehr puristisch, aber warm, sehr elegant, geräumig und absolut edel. Kein Stück zu viel und doch so, dass man sich wohl fühlt. Ich war natürlich ganz besonders gespannt auf den kleinen Nicklas, der im Dezember 2 wird und wir haben einander grad gemocht. Er ist absolut süss und er genoss es, mit mir zu spielen und wir konnten uns herrlich verweilen. Der kleine Knirps wächst mit 3 Sprachen auf – bald werden es vier sein – und so spricht er perfekt Deutsch mit seiner Mama, antwortet der Angestellten in Malayalam und die Nachbarjungen redet er in Englisch an. Da gibt es kein Mischmasch. Für ihn ist es ganz normal, zwischen den Sprachen hin und her zu hüpfen und er weiss genau, mit wem er in welcher Sprache kommunizieren muss. Ein cleveres Bürschen und sooo süss! Auch Margit kam gerne herüber zu unseren unterhaltsamen Weiberabenden in gemütlicher Runde. Einen Ausflug in die neue Shopping-Mall in Cochin – die erste überhaupt in Kerala – hatten wir auf dem Programm und sonst genossen wir die Zeit zu Hause, im Garten oder im Pool! Für mich war Indien in den beiden Tagen meilenweit entfernt – es war wie in Europa. Ich habe die Tage bei ihr extrem genossen und wir freuten uns, einander nochmals gesehen zu haben, bevor sie nach Delhi zieht, wo ihr Mann ein neues Resort übernommen hat und gleichzeitig einen Hotelneubau überwacht. 8 Jahre waren sie nun in Cochin und jetzt heisst es halt weiter ziehen. Wir haben einander jedoch versprochen, weiterhin in Kontakt zu bleiben und wer weiss, vielleicht schaffe ich es mal nach Delhi...

Als Dr. Gopika und Geetha mich wieder abholten, kippte ich den Schalter wieder um auf „indisch“ und wir fuhren direkt in einen Tempel für eine Pooja, weiter zum Frühstück mit Idli und Sambar und nach Quilon an eine Hochzeit von Dr. Gopikas Verwandten. War eine grosse Sache, da der Vater der Braut Richter ist und die Mutter als Anwältin arbeitet. Der halbe Gerichtshof von Trivandrum und einige Minister waren eingeladen - unzählige VIP-Autos fuhren mit Polizeieskorten vor. Die Feier fand nicht in einem Auditorium statt, sondern in einem Hotel. Alles sehr gediegen ausgestattet mit weissen Couchen und goldenen Schleifen über den Stühlen, eine sehr aufwändig mit Blumen dekorierte Bühne. Sehr erlesen. Doch leider war die Tempel-Musik zum „Aufwärmen“ und während der Zeremonie dermassen laut, dass ich um meine Ohren bangte. Es war der absolute Wahnsinn!!! Leider hatte ich die Handtasche mit den Ohrstöpseln im Auto gelassen, welches „meilenweit“ entfernt parkiert stand und der Fahrer unter den 2'600 Gästen nicht zu finden war, weil auch er ein Verwandter des Bräutigams war. Also gab es nur eines: Ohren zuhalten und hoffen, dass ich keinen Gehörsturz erleide... Dank den vielen VIP’s wurde die Bühne dafür so konzipiert, dass auch das Publikum etwas von der Zeremonie mitbekam. Es verdeckten keine Kamera- und Videomänner die Sicht auf das Paar und sie verzichteten sogar auf die grellen und heissen Scheinwerfer, die dermassen störend sind. Es geht also auch ohne.

So ging ein weiterer ereignis- und abwechslungsreicher Monat zu Ende und schon bald ist wieder Jahresende. Unglaublich – die Wochen fliegen nur so vorbei! Da war ich doch erst gerade mit den Gästen im Thapovan bei Andreas, wo wir Silvester feierten und schon bald heissen wir das 2010 willkommen! Aber noch liegen zwei Monate vor uns und ich denke, es wird uns auch in der kommenden Zeit nicht langweilig...

Ich wünsche euch allen einen schönen November, auch wenn er in Europa meist grau, kühl und unfreundlich ist, während wir uns hier an Sonne pur erfreuen...

Seid ganz lieb gegrüsst und umarmt
Yvonne und Savitha