April 2008
Savitha war nicht nach Aprilscherzen zumute, als sie mich am 1. April anrief. Sie hatte sich bereits davor jeden Tag per SMS und Telefon gemeldet und hatte noch nie dermassen Heimweh während den Ferien bei Amma. Doch dieses Mal wars auch anders als sonst, weil sie im neuen Häuschen von Amma wohnte, welches zwar im gleichen Dorf ist wie die übrige Verwandtschaft, doch in einem völlig anderen Quartier. Und da war überhaupt nichts los. Deshalb war Savitha froh, dass wenigstens noch drei Muslimmädchen in ihrem Alter in der Nachbarschaft wohnten, so dass sie etwas Unterhaltung hatte. Damit ihr Handy funktionierte, musste sie immer durch den Kautschukwald auf eine Anhöhe, wo sie eine wunderschöne Aussicht hatte über das ganze Palmental und bis nach Ponmodi hinüber sah. Sie war total fasziniert von dieser Gegend und sie erlebte sogar Morgendunst oder gar Morgennebel, was wir hier ja überhaupt nicht kennen.
Als ich später die Fotos von Ammas Häuschen sah, musste ich gleich zweimal leer schlucken. Im Verlgeich zur übrigen Verwandtschaft, die auch alle in armen Verhältnissen leben, hat Santha jetzt ein wirklich erbärmliches Häuschen. Doch sie kann es ihr eigen nennen und ich hoffe, sie ist darin glücklich. Das wäre für Savitha jedoch kein Problem gewesen – sie kann sich überall anpassen. Mehr Mühe hatte sie mit Amma, die sich bereits wieder mit der ganzen Nachbarschaft verkracht hatte und auch in der Verwandtschaft hat sie sich überall unbeliebt gemacht.
Savitha war froh, dass sie wenigstens zwei Tage bei ihrer älteren Schwester Saritha verbingen durfte. Saritha heiratete vor drei Jahren und Savitha ist ganz vernarrt in ihre 2-jährige Nichte Sreekutty. Savitha wird von ihr „cunjamma“ gerufen, was soviel heisst wie „jüngere Schwester der Mutter“.
Wegen all den Problemen in Bharathanoor kam Savitha gerne etwas früher nach Hause als geplant. Inzwischen hatte sie erfahren, dass sie die 9. Klasse bestanden hatte und wir freuten uns sehr darüber. Die Sommerferien waren dieses Jahr extrem kurz, denn kaum war Savitha hier, begann schon wieder die „extra class“, wie die Tuition jetzt genannt wird und sie hatte jeden Tag Maths. Wir mussten die neuen Bücher in der Schule abholen, am 23. April begann für Savitha das neue Schuljahr und wenige Tage danach wurden wir zu einem persönlichen Gespräch mit der neuen Klassenlehrerin eingeladen. Die Klassen werden jedes Jahr neu zusammengestellt und deshalb war Savitha etwas enttäuscht, dass ihre beste Freundin Sumaya in die Parallelklasse versetzt wurde. Die beiden Mädchen, mit denen sie jetzt die Bank teilt, sind hoffentlich auch nett und sie wird weiterhin Sumaya zum Lunch in der Aula treffen. Sie freute sich jedoch auf das neue Schuljahr, da die Kinder untereinander in der Freizeit und in den Ferien keinen Kontakt pflegen.
Die 10. Klasse ist für alle Schüler DAS entscheidende Jahr, weil dieses Zeugnis über die weitere Zukunft entscheidet. Wer am meisten „Marks“ scheffelt, darf später Medizin studieren, die nächste Stufe sind die Engineers und die IT-Leute und so geht es gestuft weiter. Deshalb werden die Kinder während diesem Jahr von der Familie wie unter einer Käseglocke gehalten und es gibt neben der Schule und der ganzen Lernerei wirklich gar nichts. Man hält ihnen alles fern, damit sie auch ja genug Punkte sammeln für das 11. und 12. Schuljahr, welches nur in Kerala existiert und „plus one“ und „plus two“ genannt wird. Savitha hat noch keine Zukunftspläne, ich möchte ihr jedoch ein au-pair-Jahr in der Schweiz ermöglichen, damit sie perfekt Schweizerdeutsch spricht und Hochdeutsch lesen und schreiben lernt. Sie versteht ja alles, nur beim Sprechen happert es noch. Danach sehen wir weiter, aber ich werde sie ganz sicher nicht so pushen, wie das hier üblich ist. Die Kinder stehen nämlich unter einem gewaltigen Druck der Eltern, weil alle kleine Ärzte wollen. Es wird auch so einen Weg für sie geben, da bin ich ganz zuversichtlich.
Bei Gopikas Kindern konkretisiert sich die Zukunft bereits. Kunjunni hat das 12. Schuljahr abgeschlossen und wird IT-, Rechtswissenschaften oder etwas im Managementbereich studieren, während Malu gerade das 10. Schuljahr abgeschlossen hat und in die Fussstapfen ihres Vaters treten will und Ayurveda studieren möchte. Sie hat bereits mit Sanskrit-Lektionen begonnen, um später die alten Originalschriften lesen zu können, wie das auch ihr Vater gelernt hat. Vorab gab es lange Diskussionen, da Gopikas natürlich gerne gesehen hätten, wenn Kunjunni sich als Ayurvedaarzt hätte ausbilden lassen. Doch sie wollten ihn nicht zu etwas zwingen, was ihm widerstrebt und obwohl er über ein sehr grosses Wissen verfügt und auch das Zeug dazu hätte, möchte er lieber eine andere Berufslaufbahn einschlagen. Die Familie zog auch den Rat des Astrologen bei und jetzt sind alle mit der neuen Konstellation zufrieden. Wichtig war auf jeden Fall, dass sie einen Nachfolger oder eben eine Nachfolgerin fürs Geethanjali haben und das ist ja somit gegeben.
Noch immer wurde für weitere Tempelfeste aufgerüstet. Ich dachte, die Saison sei nun endlich zu Ende, doch es stand uns nochmals ein lautes 10-tägiges Fest in der Nachbarschaft bevor. Während alles aufgebaut wurde, war eine grosse Teermaschine im Einsatz und wir freuten uns, dass nun endlich unsere Strasse neu geteert wird. Dafür würden wir sogar den Tempellärm in Kauf nehmen! Doch leider war „nix gewesen ausser Spesen“ – es gab nur eine geteerte Ausfahrt vor einem Privathaus. Somit wohnen wir weiterhin an unserer lausigen Strasse mit riesigen Schlaglöchern und bald setzt der Monsun ein, wo es wirklich lebensgefährlich wird, wenn alles überschwemmt wird und nicht sichtbar ist, wie tief die Löcher sind. Doch wir müssen damit leben und bezahlen während der Regenzeit mehr für die Rikschafahrten zu unserem Haus, weil die Fahrer um ihre Gefährte bangen...
Im April war nicht sehr viel los – eigentlich überhaupt nichts – und es war schlichtweg langweilig. Das Geethanjali war geschlossen, wir schickten das Pesonal für Ferien nach Hause, die Palmdächer wurden neu gedeckt und Renovationsarbeiten standen an. Ab 22. April begann die neue Saison und alle Zimmer waren besetzt – vorerst jedoch mit einheimischen Patienten, so dass ich noch nichts zu tun hatte und deshalb freute ich mich ganz besonders über jeden Besuch, der trotz tiefster Zwischensaison den Weg zu meinem Häuschen fand.
Wie immer zu dieser Jahreszeit war es sehr heiss, oft sehr drückend schwül wegen der hohen Luftfeuchtigkeit und deshalb gehörte die tägliche Siesta zwischen 12.00 und 16.00 Uhr zum normalen Tagesablauf. Dazu kam, dass im ganzen Quartier während fast zwei Wochen jeden Tag 8 Stunden der Strom wegen Unterhaltsarbeiten abgestellt wurde. War natürlich alles andere als angenehm, wo es tagsüber ohne Ventilator kaum zum Aushalten war. Doch auch das ging vorüber und wir versuchten einfach, uns so wenig wie möglich zu bewegen. Dafür habe ich viele Bücher gelesen und es mir bequem gemacht. Ende Monat setzten die üblichen Sommergewitter ein, die etwas Abkühlung brachten und der Natur gut taten.
Nach all den ruhigen und heissen Tagen, brachte „Vishu“ am 14. April eine willkommene Abwechslung. Mit diesem Feiertag wird das landwirtschaftliche Neujahr eingeläutet. Zur Feier des Tages lud ich die ganze Familie ins Kino ein, wo wir einen amüsanten Familienfilm in Malayalam sahen, dem ich sogar folgen konnte. Alle Vorstellungen waren auf Tage hinaus ausverkauft und bis in die 1. Reihe war jeder Platz belegt. Kino ist in Indien immer ein Abenteuer und so herrschte grosse Aufregung als die Hauptdarsteller zum ersten Mal auf der Leinwand erschienen. All die jungen Männer in den unteren Rängen gröhlten, kreischten und tobten! Die Filmschauspieler werden hier wie Götter verehrt und umjubelt. Wir gerieten zwar nicht in Ekstase, genossen den Film aber sehr und knabberten dazu scharfe Nüssli, statt Popcorn, löschten den Brand mit Wasser und die Kinder schleckten geschmolzenes Eis.
Nach der tollen Unterhaltung spazierten wir wie alle anderen Familien durch den Museum-Park. Ganz Trivandrum schien heute im Sonntagsstaat unterwegs zu sein. Und zum Abschluss des Tages bedienten wir uns am reichen Buffet vom Muthoot-Plaza Hotel in Trivandrum. Es war richtig schön, mal nur „en famille“ etwas zu unternehmen. Im vergangenen Jahr waren die Kinder wegen der Schule nie dabei gewesen, wenn wir jeweils am Abend mit den Gästen unterwegs waren in der Stadt. Ob zu kulturellen Anlässen oder an der Beach zum Sunset mit anschliessendem Dinner. Deshalb genossen wir den Ausflug mit allen Kindern, plus den beiden Cousinen von Malu und Kunjunni, doppelt.
Vor lauter Schule haben Savitha und ich nie mehr einen Frauennachmittag beim Shopping geniessen können. Den holten wir jedoch während ihren Ferien nach und liessen uns von Shibu durch die Stadt chauffieren. Vom neuen Schoolbag bis zu hübschen Dessous deckten wir uns ein und hatten eine Menge Spass dabei. Dazwischen stärkten wir uns bei einer Lime-Cola und einem Cheeseburger im Ambrosia, dem „McDonald’s“ von Trivandrum.
Ende Monat kam endlich wieder Bewegung in unser Leben und ich genoss drei herrliche Tage in Cochin bei meiner Freundin Daniela und ihrem vier Monate alten Nicklas, den ich zum ersten Mal sah. Der Junge ist super süss, wir hatten viel Spass zusammen und er genoss es, mit der „Tante“ zu spielen. Nur sind ihm Shopping-Touren ein Gräuel – was ja auch verständlich ist – und so machten wir es kurz in der Stadt und gingen dann lieber wieder nach Hause. Wegen der grossen Hitze haben wir die Nachmittage anstatt am Pool vom Le Meridien, lieber im klimatisierten Wohnzimmer zu Hause verbracht. Kulinarisch liessen wir uns zum Lunch im Hotel verwöhnen und die Bestellung fürs Nachtessen gab Daniela pesönlich beim Küchenchef auf und das Essen wurde nach Hause geliefert. Ein toller Service! So haben wir auf der Spieldecke von Nicklas ein Picknick veranstaltet und während wir mit ihm spielten, schlemmten wir genüsslich und liessen es uns gut gehen. War viel lustiger als ein Abend im Hotel - richtig cool!
Für die Heimfahrt im Zug habe ich ein 3-er 1. Klasse-Sleeper-Abteil erwischt, welches ich mit einer netten Dame aus Kottayam teilte, die in Cochin bei der Alliance Française arbeitet. Nach wenigen Minuten stellte sich heraus, dass wir eine gemeinsame Bekannte in Trivandrum haben und so kamen wir schnell ins Gespräch, so dass die Fahrt kurzweilig und unterhaltsam war. Danach hatte ich das Abteil mehr oder weniger für mich alleine, aber da wir immer wieder auf offener Strecke auf entgegenkommende Züge warten mussten, wurde es eine unendlich lange Fahrt und ich bin erst nach 6 Stunden in Trivandrum eingefahren. Der Schnellzug hat normalerweise nicht länger als 4 ½ Stunden.
Nach den drei unvergesslichen Tagen in Cochin, wo ich mich bei Daniela immer verwöhnen lassen darf, war der Familienausflug in den Amma-Ashram wieder ein Kontrastprogramm – eben typisch indisch! Sushila, eine ehemalige Studienkollegin von Dr. Gopika, arbeitet als Ayurvedaärztin im Ashram. Am 10./11. Mai findet ein Klassentreffen in Kovalam statt und Dr. Gopika bat die heilige „Mutter“ um Erlaubnis, dass Sushila für dieses Wochenende frei bekommt. Wenn die Amma im Ashram ist, sitzt sie den ganzen Tag auf der Bühne und umarmt jeden ihrer Anhänger und segnet sie, gibt auch mal Ratschläge und man sagt, dass sie Kranke heilen könne und andere Wunder vollbringt. Ich war vor zwei Jahren mal mit Gopikas bei einer solchen „Darshan“, was ziemlich eindrücklich war, doch heute war ich nicht dazu aufgelegt und habe alles etwas distanzierter beobachtet. Zudem bin ich überhaupt nicht der Ashramtyp und all die weiss gewandeten, etwas blassen, eher kränklich aussehenden Ausländer, die um sie herum schwirren, sind nicht unbedingt meine Welt. Wir wurden von Sushila als Ehrengäste direkt vom Hintereingang zur Bühne begleitet, wo wir uns in die Reihe stellen konnten, ohne dass wir stundenlang warten mussten. Wir gingen vor Amma auf die Knie und sie drückte uns an ihren üppigen Busen, wo sie jedem etwas ins Ohr murmelte. Bei den meisten Frauen (auch bei mir) flüsterte sie „mole, mole, mole“, was so viel heisst wie Mädchen oder Tochter. Die Hauptsache war, dass Dr. Gopika die Bewilligung für Sushila bekam und somit war unsere Mission erfolgreich beendet.
Kaum war ich wieder zu Hause, herrschte grosse Aufregung im „Hühnerstall“, da sich Bruno kurzfristig für einen Besuch bei seinen beiden Prinzessinnen angemeldet hat. Er wird das erste Mal Indischen Boden betreten und ist natürlich mega gespannt auf unser Daheim und unser Umfeld. Wäre auch wirklich lange gewesen, wenn er sich bis im November hätte gedulden müssen... So wurde das ganze Haus auf Hochglanz poliert – sofern das bei dem vielen Staub hier überhaupt möglich ist und alle waren ganz aus dem Häuschen. Sogar Shashi haben wir mit unserer Vorfreude angesteckt. Und jetzt hoffen wir natürlich ganz fest, dass ihn „the Indian way of life“ dermassen packt, dass er sich darauf freut, den kommenden Winter bei uns zu verbringen.
Wir wünschen euch allen einen wunderschönen Mai und dass der Frühling nun endlich Einzug hält nach dem mehr als lausigen April in Europa.
Seid lieb gegrüsst
Yvonne und Savitha