Yvonne Muller

30 April 2008

April 2008

Savitha war nicht nach Aprilscherzen zumute, als sie mich am 1. April anrief. Sie hatte sich bereits davor jeden Tag per SMS und Telefon gemeldet und hatte noch nie dermassen Heimweh während den Ferien bei Amma. Doch dieses Mal wars auch anders als sonst, weil sie im neuen Häuschen von Amma wohnte, welches zwar im gleichen Dorf ist wie die übrige Verwandtschaft, doch in einem völlig anderen Quartier. Und da war überhaupt nichts los. Deshalb war Savitha froh, dass wenigstens noch drei Muslimmädchen in ihrem Alter in der Nachbarschaft wohnten, so dass sie etwas Unterhaltung hatte. Damit ihr Handy funktionierte, musste sie immer durch den Kautschukwald auf eine Anhöhe, wo sie eine wunderschöne Aussicht hatte über das ganze Palmental und bis nach Ponmodi hinüber sah. Sie war total fasziniert von dieser Gegend und sie erlebte sogar Morgendunst oder gar Morgennebel, was wir hier ja überhaupt nicht kennen.
Als ich später die Fotos von Ammas Häuschen sah, musste ich gleich zweimal leer schlucken. Im Verlgeich zur übrigen Verwandtschaft, die auch alle in armen Verhältnissen leben, hat Santha jetzt ein wirklich erbärmliches Häuschen. Doch sie kann es ihr eigen nennen und ich hoffe, sie ist darin glücklich. Das wäre für Savitha jedoch kein Problem gewesen – sie kann sich überall anpassen. Mehr Mühe hatte sie mit Amma, die sich bereits wieder mit der ganzen Nachbarschaft verkracht hatte und auch in der Verwandtschaft hat sie sich überall unbeliebt gemacht.
Savitha war froh, dass sie wenigstens zwei Tage bei ihrer älteren Schwester Saritha verbingen durfte. Saritha heiratete vor drei Jahren und Savitha ist ganz vernarrt in ihre 2-jährige Nichte Sreekutty. Savitha wird von ihr „cunjamma“ gerufen, was soviel heisst wie „jüngere Schwester der Mutter“.

Wegen all den Problemen in Bharathanoor kam Savitha gerne etwas früher nach Hause als geplant. Inzwischen hatte sie erfahren, dass sie die 9. Klasse bestanden hatte und wir freuten uns sehr darüber. Die Sommerferien waren dieses Jahr extrem kurz, denn kaum war Savitha hier, begann schon wieder die „extra class“, wie die Tuition jetzt genannt wird und sie hatte jeden Tag Maths. Wir mussten die neuen Bücher in der Schule abholen, am 23. April begann für Savitha das neue Schuljahr und wenige Tage danach wurden wir zu einem persönlichen Gespräch mit der neuen Klassenlehrerin eingeladen. Die Klassen werden jedes Jahr neu zusammengestellt und deshalb war Savitha etwas enttäuscht, dass ihre beste Freundin Sumaya in die Parallelklasse versetzt wurde. Die beiden Mädchen, mit denen sie jetzt die Bank teilt, sind hoffentlich auch nett und sie wird weiterhin Sumaya zum Lunch in der Aula treffen. Sie freute sich jedoch auf das neue Schuljahr, da die Kinder untereinander in der Freizeit und in den Ferien keinen Kontakt pflegen.

Die 10. Klasse ist für alle Schüler DAS entscheidende Jahr, weil dieses Zeugnis über die weitere Zukunft entscheidet. Wer am meisten „Marks“ scheffelt, darf später Medizin studieren, die nächste Stufe sind die Engineers und die IT-Leute und so geht es gestuft weiter. Deshalb werden die Kinder während diesem Jahr von der Familie wie unter einer Käseglocke gehalten und es gibt neben der Schule und der ganzen Lernerei wirklich gar nichts. Man hält ihnen alles fern, damit sie auch ja genug Punkte sammeln für das 11. und 12. Schuljahr, welches nur in Kerala existiert und „plus one“ und „plus two“ genannt wird. Savitha hat noch keine Zukunftspläne, ich möchte ihr jedoch ein au-pair-Jahr in der Schweiz ermöglichen, damit sie perfekt Schweizerdeutsch spricht und Hochdeutsch lesen und schreiben lernt. Sie versteht ja alles, nur beim Sprechen happert es noch. Danach sehen wir weiter, aber ich werde sie ganz sicher nicht so pushen, wie das hier üblich ist. Die Kinder stehen nämlich unter einem gewaltigen Druck der Eltern, weil alle kleine Ärzte wollen. Es wird auch so einen Weg für sie geben, da bin ich ganz zuversichtlich.

Bei Gopikas Kindern konkretisiert sich die Zukunft bereits. Kunjunni hat das 12. Schuljahr abgeschlossen und wird IT-, Rechtswissenschaften oder etwas im Managementbereich studieren, während Malu gerade das 10. Schuljahr abgeschlossen hat und in die Fussstapfen ihres Vaters treten will und Ayurveda studieren möchte. Sie hat bereits mit Sanskrit-Lektionen begonnen, um später die alten Originalschriften lesen zu können, wie das auch ihr Vater gelernt hat. Vorab gab es lange Diskussionen, da Gopikas natürlich gerne gesehen hätten, wenn Kunjunni sich als Ayurvedaarzt hätte ausbilden lassen. Doch sie wollten ihn nicht zu etwas zwingen, was ihm widerstrebt und obwohl er über ein sehr grosses Wissen verfügt und auch das Zeug dazu hätte, möchte er lieber eine andere Berufslaufbahn einschlagen. Die Familie zog auch den Rat des Astrologen bei und jetzt sind alle mit der neuen Konstellation zufrieden. Wichtig war auf jeden Fall, dass sie einen Nachfolger oder eben eine Nachfolgerin fürs Geethanjali haben und das ist ja somit gegeben.

Noch immer wurde für weitere Tempelfeste aufgerüstet. Ich dachte, die Saison sei nun endlich zu Ende, doch es stand uns nochmals ein lautes 10-tägiges Fest in der Nachbarschaft bevor. Während alles aufgebaut wurde, war eine grosse Teermaschine im Einsatz und wir freuten uns, dass nun endlich unsere Strasse neu geteert wird. Dafür würden wir sogar den Tempellärm in Kauf nehmen! Doch leider war „nix gewesen ausser Spesen“ – es gab nur eine geteerte Ausfahrt vor einem Privathaus. Somit wohnen wir weiterhin an unserer lausigen Strasse mit riesigen Schlaglöchern und bald setzt der Monsun ein, wo es wirklich lebensgefährlich wird, wenn alles überschwemmt wird und nicht sichtbar ist, wie tief die Löcher sind. Doch wir müssen damit leben und bezahlen während der Regenzeit mehr für die Rikschafahrten zu unserem Haus, weil die Fahrer um ihre Gefährte bangen...

Im April war nicht sehr viel los – eigentlich überhaupt nichts – und es war schlichtweg langweilig. Das Geethanjali war geschlossen, wir schickten das Pesonal für Ferien nach Hause, die Palmdächer wurden neu gedeckt und Renovationsarbeiten standen an. Ab 22. April begann die neue Saison und alle Zimmer waren besetzt – vorerst jedoch mit einheimischen Patienten, so dass ich noch nichts zu tun hatte und deshalb freute ich mich ganz besonders über jeden Besuch, der trotz tiefster Zwischensaison den Weg zu meinem Häuschen fand.

Wie immer zu dieser Jahreszeit war es sehr heiss, oft sehr drückend schwül wegen der hohen Luftfeuchtigkeit und deshalb gehörte die tägliche Siesta zwischen 12.00 und 16.00 Uhr zum normalen Tagesablauf. Dazu kam, dass im ganzen Quartier während fast zwei Wochen jeden Tag 8 Stunden der Strom wegen Unterhaltsarbeiten abgestellt wurde. War natürlich alles andere als angenehm, wo es tagsüber ohne Ventilator kaum zum Aushalten war. Doch auch das ging vorüber und wir versuchten einfach, uns so wenig wie möglich zu bewegen. Dafür habe ich viele Bücher gelesen und es mir bequem gemacht. Ende Monat setzten die üblichen Sommergewitter ein, die etwas Abkühlung brachten und der Natur gut taten.

Nach all den ruhigen und heissen Tagen, brachte „Vishu“ am 14. April eine willkommene Abwechslung. Mit diesem Feiertag wird das landwirtschaftliche Neujahr eingeläutet. Zur Feier des Tages lud ich die ganze Familie ins Kino ein, wo wir einen amüsanten Familienfilm in Malayalam sahen, dem ich sogar folgen konnte. Alle Vorstellungen waren auf Tage hinaus ausverkauft und bis in die 1. Reihe war jeder Platz belegt. Kino ist in Indien immer ein Abenteuer und so herrschte grosse Aufregung als die Hauptdarsteller zum ersten Mal auf der Leinwand erschienen. All die jungen Männer in den unteren Rängen gröhlten, kreischten und tobten! Die Filmschauspieler werden hier wie Götter verehrt und umjubelt. Wir gerieten zwar nicht in Ekstase, genossen den Film aber sehr und knabberten dazu scharfe Nüssli, statt Popcorn, löschten den Brand mit Wasser und die Kinder schleckten geschmolzenes Eis.
Nach der tollen Unterhaltung spazierten wir wie alle anderen Familien durch den Museum-Park. Ganz Trivandrum schien heute im Sonntagsstaat unterwegs zu sein. Und zum Abschluss des Tages bedienten wir uns am reichen Buffet vom Muthoot-Plaza Hotel in Trivandrum. Es war richtig schön, mal nur „en famille“ etwas zu unternehmen. Im vergangenen Jahr waren die Kinder wegen der Schule nie dabei gewesen, wenn wir jeweils am Abend mit den Gästen unterwegs waren in der Stadt. Ob zu kulturellen Anlässen oder an der Beach zum Sunset mit anschliessendem Dinner. Deshalb genossen wir den Ausflug mit allen Kindern, plus den beiden Cousinen von Malu und Kunjunni, doppelt.

Vor lauter Schule haben Savitha und ich nie mehr einen Frauennachmittag beim Shopping geniessen können. Den holten wir jedoch während ihren Ferien nach und liessen uns von Shibu durch die Stadt chauffieren. Vom neuen Schoolbag bis zu hübschen Dessous deckten wir uns ein und hatten eine Menge Spass dabei. Dazwischen stärkten wir uns bei einer Lime-Cola und einem Cheeseburger im Ambrosia, dem „McDonald’s“ von Trivandrum.

Ende Monat kam endlich wieder Bewegung in unser Leben und ich genoss drei herrliche Tage in Cochin bei meiner Freundin Daniela und ihrem vier Monate alten Nicklas, den ich zum ersten Mal sah. Der Junge ist super süss, wir hatten viel Spass zusammen und er genoss es, mit der „Tante“ zu spielen. Nur sind ihm Shopping-Touren ein Gräuel – was ja auch verständlich ist – und so machten wir es kurz in der Stadt und gingen dann lieber wieder nach Hause. Wegen der grossen Hitze haben wir die Nachmittage anstatt am Pool vom Le Meridien, lieber im klimatisierten Wohnzimmer zu Hause verbracht. Kulinarisch liessen wir uns zum Lunch im Hotel verwöhnen und die Bestellung fürs Nachtessen gab Daniela pesönlich beim Küchenchef auf und das Essen wurde nach Hause geliefert. Ein toller Service! So haben wir auf der Spieldecke von Nicklas ein Picknick veranstaltet und während wir mit ihm spielten, schlemmten wir genüsslich und liessen es uns gut gehen. War viel lustiger als ein Abend im Hotel - richtig cool!
Für die Heimfahrt im Zug habe ich ein 3-er 1. Klasse-Sleeper-Abteil erwischt, welches ich mit einer netten Dame aus Kottayam teilte, die in Cochin bei der Alliance Française arbeitet. Nach wenigen Minuten stellte sich heraus, dass wir eine gemeinsame Bekannte in Trivandrum haben und so kamen wir schnell ins Gespräch, so dass die Fahrt kurzweilig und unterhaltsam war. Danach hatte ich das Abteil mehr oder weniger für mich alleine, aber da wir immer wieder auf offener Strecke auf entgegenkommende Züge warten mussten, wurde es eine unendlich lange Fahrt und ich bin erst nach 6 Stunden in Trivandrum eingefahren. Der Schnellzug hat normalerweise nicht länger als 4 ½ Stunden.

Nach den drei unvergesslichen Tagen in Cochin, wo ich mich bei Daniela immer verwöhnen lassen darf, war der Familienausflug in den Amma-Ashram wieder ein Kontrastprogramm – eben typisch indisch! Sushila, eine ehemalige Studienkollegin von Dr. Gopika, arbeitet als Ayurvedaärztin im Ashram. Am 10./11. Mai findet ein Klassentreffen in Kovalam statt und Dr. Gopika bat die heilige „Mutter“ um Erlaubnis, dass Sushila für dieses Wochenende frei bekommt. Wenn die Amma im Ashram ist, sitzt sie den ganzen Tag auf der Bühne und umarmt jeden ihrer Anhänger und segnet sie, gibt auch mal Ratschläge und man sagt, dass sie Kranke heilen könne und andere Wunder vollbringt. Ich war vor zwei Jahren mal mit Gopikas bei einer solchen „Darshan“, was ziemlich eindrücklich war, doch heute war ich nicht dazu aufgelegt und habe alles etwas distanzierter beobachtet. Zudem bin ich überhaupt nicht der Ashramtyp und all die weiss gewandeten, etwas blassen, eher kränklich aussehenden Ausländer, die um sie herum schwirren, sind nicht unbedingt meine Welt. Wir wurden von Sushila als Ehrengäste direkt vom Hintereingang zur Bühne begleitet, wo wir uns in die Reihe stellen konnten, ohne dass wir stundenlang warten mussten. Wir gingen vor Amma auf die Knie und sie drückte uns an ihren üppigen Busen, wo sie jedem etwas ins Ohr murmelte. Bei den meisten Frauen (auch bei mir) flüsterte sie „mole, mole, mole“, was so viel heisst wie Mädchen oder Tochter. Die Hauptsache war, dass Dr. Gopika die Bewilligung für Sushila bekam und somit war unsere Mission erfolgreich beendet.

Kaum war ich wieder zu Hause, herrschte grosse Aufregung im „Hühnerstall“, da sich Bruno kurzfristig für einen Besuch bei seinen beiden Prinzessinnen angemeldet hat. Er wird das erste Mal Indischen Boden betreten und ist natürlich mega gespannt auf unser Daheim und unser Umfeld. Wäre auch wirklich lange gewesen, wenn er sich bis im November hätte gedulden müssen... So wurde das ganze Haus auf Hochglanz poliert – sofern das bei dem vielen Staub hier überhaupt möglich ist und alle waren ganz aus dem Häuschen. Sogar Shashi haben wir mit unserer Vorfreude angesteckt. Und jetzt hoffen wir natürlich ganz fest, dass ihn „the Indian way of life“ dermassen packt, dass er sich darauf freut, den kommenden Winter bei uns zu verbringen.

Wir wünschen euch allen einen wunderschönen Mai und dass der Frühling nun endlich Einzug hält nach dem mehr als lausigen April in Europa.

Seid lieb gegrüsst

Yvonne und Savitha

02 April 2008

Februar/März 2008

Nach den letzten Ferienvorbereitungen konnte ich den Abflug am 1. Februar kaum mehr erwarten! Wie immer hatte ich alles perfekt organisiert, so dass Savitha und Shashi zu Hause gut alleine ohne mich zurecht kamen, im Geethanjali war auch alles vorbereitet und so konnte ich mit gutem Gewissen meiner alten Heimat entgegen fliegen.

Die Überraschung zu Mamis 70. Geburtstag am 4. Februar ist mir mehr als gelungen und die Freude war unbeschreiblich, als ich in meinem Seidensari zum Geburtstagsessen so quasi vom Himmel fiel. Die Familie hatte mich ja erst auf den 15. Februar erwartet. Auf diesen Augenblick hatte ich mich ein ganzes Jahr lang gefreut und habe mir die Szene immer und immer wieder ausgemalt.

Papi feierte am folgenden Tag seinen 77. Geburtstag und einen Tag später verabschiedete ich mich schon wieder und fuhr nach Bern zu meinem Bruder Rolf und seiner Ina, wo ich mich um mein neues Visum kümmerte. War keine grosse Angelegenheit, doch leider bekam ich nur ein Business-Visum für ein Jahr. Ich hätte mir eines für 5 Jahre gewünscht, aber eigentlich spielte es keine Rolle, da ich im nächsten Februar eh wieder zum Skifahren komme – und nicht nur dafür...

Kaum war alles erledigt, besuchte ich noch ein paar Freunde in Bern und Umgebung, bevor es mich weiter nach Basel zog, wo ich schon die ersten Tage bis zu Mamis Geburtstag bei meiner neuen grossen Liebe verbracht habe, die ich im vergangenen Herbst per Internet kennen lernte. Es war wie „nach Hause kommen“, als wir uns endlich am Flughafen in die Arme fielen, denn bis anhin kommunizierten wir nur per e-mail und Telefon. Drei Tage lang waren wir an der Basler Fasnacht und ich hätte nie gedacht, dass mich dieser Anlass dermassen begeistern würde. Der Startschuss erfolgte traditionsgemäss mit dem „Morgestraich“ am Montag, 11. Februar um 04.00 Uhr in der Früh, wo wir hinter den Trommlern und Pfeiffern durch die dunklen Gassen zogen. Eine einmalige Atmosphäre! Wir mischten uns maskiert unters Volk nahmen an den verschiedenen „Cortèges“ teil, beim Kinderumzug waren wir sogar mit Brunos Enkeln aktiv dabei und haben während diesen Tagen kilometerweite Märsche beim „gässle“ absolviert. Daneben entdeckte ich mit Bruno Basel, wir machten Ausflüge ins nahe Elsass und über die Grenze nach Deutschland und ich freute mich darüber, seine Umgebung kennen zu lernen.

Das Wetter hatte es dieses Mal mehr als gut gemeint, ein Tag war schöner als der andere und wir fuhren für eine Woche auf die Lenzerheide zu meinen Eltern zum Skifahren. Darauf hatte ich mich ganz besonders gefreut und wir waren ständig auf der Piste oder fröhnten dem Après-Ski. Rolf kam extra für ein Wochenende hoch und wir verbrachten eine herrliche Zeit in den Bergen. Freundinnen besuchten mich, ein Verwandtschaftsbesuch in Altstätten durfte natürlich nicht fehlen und ich war auch bei meiner Schwester Karin und ihrer Familie. So verging die Zeit viel zu schnell, bis ich die letzten Tage vor meiner Abreise nochmals bei Bruno genoss. Der Abschied am 5. März tat weh, doch in der Zwischenzeit haben wir gelernt, eine Fernbeziehung zu führen und den kommenden Winter wird Bruno bei Savitha und mir überwintern. Nachdem ich sein Umfeld und seine Leute kennen lernte und ich ihn wiederum meiner Familie vorstellte, ist er natürlich gespannt auf mein exotisches Leben hier in Indien.

Zu Hause freuten sich alle auf Mamas Rückkehr und sogar Jimmy wedelte aufgeregt zur Begrüssung. Kaum hatte ich mich akklimatisiert und die Büroberge abgetragen, kümmerte ich mich wieder um die Gäste, empfing diverse Besuche zu Hause, war als Shopping-Guide gefragt und der Alltag pendelte sich rasch wieder ein. Nach dem ganzen Visum-Stress habe ich die Ferien extrem genossen und ich habe mich prima erholt. Zudem war es herrlich, sich mal nicht um Existentielles wie Strom, Wasser, Gas, Computer, Internetlinien etc. kümmern zu müssen – mal keine Techniker organisieren, Handwerker anweisen, der indischen Bürokratie hinterher rennen... Einfach nur das komfortable Leben in der Schweiz geniessen, wo alles sauber und geregelt ist und alles funktioniert – und trotzdem – zurück möchte ich nicht!!! Das Leben hier hat dafür andere Qualitäten und die schätze ich sehr und möchte sie auch nicht mehr missen.

Es war inzwischen schon recht heiss geworden, so wie es sich zu dieser Jahreszeit gehört und ich musste mich in den ersten Tagen nach den winterlichen Temperaturen in der Schweiz erst wieder an die Hitze und die Feuchtigkeit gewöhnen. Doch Mitte März überraschte uns ein Tief, wie wir es zu dieser Jahreszeit noch nie erlebt haben! Es regnete fast zwei Wochen lang!!! Wie Mitten im Monsun, wobei es dann heftig, aber kurz regnet, doch jetzt hatten wir praktisch Dauerregen. Das hiess wie immer, oft Stromausfall, keine Internetverbindung, die Klingel am Tor funktionierte wegen einem Wasserschaden nicht mehr und die schmutzige Wäsche moderte im Waschkorb vor sich hin, weil nichts mehr trocknete. Was wir zuerst nach der langen Trockenheit als Segen für die Natur empfanden, artete mit jedem weiteren Regentag in einer Katastrophe aus für viele Bauern, weil ganze Reis- und Weizenernten im Morast versanken. Der Staat hat den betroffenen Bauern finanzielle Unterstützung zugesichert, doch ob sie je etwas davon sehen, ist mehr als ungewiss... Die Minister zogen gleich los in die betroffenen Gebiete, liessen sich von Journalisten inmitten der zerstörten Felder ablichten und das wars dann gewesen – Mission beendet.

Und schon stand uns Ostern bevor. Früher habe ich noch mit Savitha Ostereier gefärbt, es gab jeweils einen Osterbrunch und als sie noch klein war, versteckte ich ein Familiennestli im Garten, doch davon sind wir in den letzten Jahren abgekommen und so ging auch dieses Jahr Ostern fast unmerklich an uns vorbei.

Dafür habe ich zum ersten Mal eine katholische Karfreitagsmesse erlebt. In der Kirche von Puthenthope, ganz in der Nähe von Gopikas, war ich schon zu diversen Anlässen – ob 1. Kommunion, Ostersonntag, Hochzeit oder Beerdigung. Von 05.00 Uhr in der Früh bis abends 18.30 Uhr wurde praktisch ein durchgehendes Programm geboten. Die Abschlusszeremonie war ein ganz besonderes Erlebnis. Die Kirche war wie immer proppenvoll und alle sassen am Boden im Schneidersitz. In der Kirche waren alle Kreuze, Jesus-Statuen, Marien und Jesuskinder mit Tüchern verhangen, die wahrscheinlich erst wieder am Ostersonntag gelüftet wurden. Es herrschte ein Kommen und Gehen und wer nicht gerade in der Kirche sass und dem Priester oder der Musik lauschte, der weilte in einer der vielen Gruppen, sie sich draussen vor der Kirche gebildet hatten, ob stehend oder sitzend im Sand - natürlich immer nach Geschlechtern getrennt. Die Kinder spielten zwischen den andächtigen Müttern in der Kirche mit ihren roten Luftballons, die draussen rege verkauft wurden, nur ihr Eis durften sie nicht drinnen schlecken. Eine Stimmung zwischen Kirchgang und Jahrmarkt. Man traf sich hier unter Freunden und Verwandten, das ganze Dorf war da. Nach dem letzten Abendmahl wurde eine lebensgrosse Jesus-Statue aus Gips auf einem Totenbett mit Baldachin aus der Kirche getragen und das Volk bildete eine Prozession durchs Dorf. In der Zwischenzeit begann es wieder zu tröpfeln, deshalb marschierten alle zügig voran und die Route wurde abgekürzt. Wieder retour, platzierte man das Totenbett vor dem Altar und zum Abschluss des Tages küssten alle Leute die Füsse von Jesus und baten um seinen Segen. Für mich als Protestantin etwas fremd, aber auch ich habe mich schön verneigt und bekam etwas Knabberzeug vom Ministranten in die rechte Hand, wie alle anderen.

Am nächsten Tag kam Marlies zu uns und wir freuten uns riesig über ihren Besuch. Zwei Tage vorher rief sie an und fragte, ob ich über Ostern zu Hause sei. Ja, natürlich, aber das Wetter war noch immer mies, doch sie meinte: lieber im warmen Regen in den Tropen als in der Schweiz bei Nebel, Regen, Schnee und Kälte... So flog sie extra den langen Weg für 4 Tage nach Kerala – das kann man halt nur, wenn man bei der SWISS Airline arbeitet... So ging es bei uns über Ostern sehr lustig und laut zu und her in unserem Frauenhäuschen – oder soll ich sagen Hühnerstall???

Marlies und ich besuchten zusammen das Waisenhaus, wo die 144 Girls noch alle im Stress der Jahresabschlussprüfungen standen. Die ältesten Mädchen werden nach den Prüfungen der 12. Klasse das Heim verlassen und lernen, ausserhalb des geschützten Rahmens ihren Weg zu finden. Das heisst konkret, dass die Familien oder Verwandten wieder die Verantwortung für die Mädchen übernehmen und das Heimleiterehepaar kümmert sich nur noch um den finanziellen Teil der Ausbildung. Christiane und Gérard dürfen stolz sein, für alle ein passendes Plätzchen gefunden zu haben. Während die einen aufs College gehen um später an einer Universität zu studieren, besucht eine Gruppe die Handelsschule, eine andere wiederum belegt einen Kurs für Flight-Attendants und die schwächsten dürfen im Heim bleiben, wo sie als Näherinnen ausgebildet werden, in der Küche helfen oder sonst eine Aufgabe übernehmen. So lernen die Mädchen, auf eigenen Füssen zu stehen und zudem ist es für die Heimeltern nicht mehr möglich, die ganze Verantwortung zu tragen, was sich ausserhalb der Heimmauern abspielt. Schliesslich sind die Mädchen jetzt in einem Alter, wo halt auch neue Interessen geweckt werden...

Nebst dem Waisenhaus war ich auch wieder im Kindergarten drüben. Die Mütter brachten gerade ihre kleinen Knirpse vorbei. Der eine Junge weinte bitterlich, als die Mutter nach Hause wollte, doch als er Birgit und mich sah, war alles vergessen und er staunte nur noch... Wir brachten diverse Spielsachen vorbei und wenn ich mal Zeit habe, werde ich einen Nachmittag lang mit den Kindern spielen. Das Schuljahr ging auch für sie bald zu Ende und alle freuten sich auf die Sommerferien. Die Zeit wird genutzt und ich kümmere mich um den Spielplatz hinter dem Haus. Ich habe bereits eine Rutschbahn in Auftrag gegeben und der Garten muss wieder in Ordnung gebracht werden. Bis zum Schulbeginn am 1. Juni wird alles fertig sein und die Kinder werden sich bestimmt über das neue Spielgerät freuen.

Wegen dem schlechten Wetter konnte ich mit Marlies nicht allzuviel unternehmen und wir verbrachten viel Zeit auf der Dachterrasse. Trotzdem hatte sich ihre lange Reise gelohnt, da ich ihr als „Zückerli“ eine Hindu-Hochzeit bieten konnte. Vor der Trauung begrüssten und bewunderten wir die Braut in ihrem Kämmerlein, während eine Matrone von Kosmetikerin den letzten Gesichtspuder aufstäubte und bereits alle Fotografen und Kameramänner in Position standen, um die Braut zusammen mit den Gratulanten als Erinnerung abzulichten. Die eigentliche Zeremonie dauerte wie immer keine 10 Minuten. Wie üblich bekamen wir davon kaum was mit, weil die ganze Foto-, Kamera- und Beleuchtercrew das Paar unter dem Baldachin umzingelte. Anstatt die üppig mit Gold behängte Braut in ihrem reich bestickten roten Sari, den vielen Jasminblüten im Haar und dem sehr nervösen Ehemann daneben im Keraladothi mit weissem Hemd zu bewundern, blieb uns nur die Aussicht auf Männerrücken in verschwitzten Karohemden, ausgefransten Jeans, riesigen Trekkinglatschen und dem Kabelsalat, den sie hinter sich her trugen. Schade. Doch wir waren dabei und Marlies hat das ganze Drumherum trotzdem gefallen. Zudem durften wir als Ehrengäste in der ersten Reihe sitzen und waren dem Geschehen auf der Bühne relativ nahe. Spannend war für sie natürlich das Hochzeitsessen in der grossen Mensa, wo wir auf dem Bananenblatt abgefertigt wurden. Savitha hat sich gekrümmt vor lachen, als wir ihr später erzählten, dass Marlies-auntie sich mit einem Bananenchipsli bedient hat, weil es kein Besteck gab... Ja, mit Marlies wird es wirklich nie langweilig!!!

Und endlich war die Schlechtwetterfront vorbei und die Sonne schien wieder wie eh und je vom stahlblauen Himmel. Alles war frisch und schön, der Wind strich durch die Palmen und die Temperaturen waren sehr angenehm. Leider musste sich Marlies schon wieder verabschieden, doch wir hoffen, dass wir nicht wieder zwei Jahre auf ihren nächsten Besuch warten müssen. Sie feute sich sehr, unser neues Daheim und die Umgebung zu sehen und Gopikas wieder einmal zu treffen.

Mit Birgit besuchte ich ein tolles Konzert, welches von der Alliance Française organisiert wurde. Drei Musiker aus Lyon spielten auf Klarinetten und einer Oboe Werke von Mozart, Beethoven und Rossini und im zweiten Teil des Konzertes interpretierten sie französische Komponisten, die mir jedoch nicht geläufig waren. Es war ein absoluter Ohrenschmaus, weil für einmal auf Lautsprecher verzichtet wurde. Sogar der Prinz und sein Vater haben das Konzert beehrt und sie erzählten mir, dass die Maharani zur Zeit im Spital sei und es ihr gesundheitlich nicht gut gehe. Vor bald zwei Jahren gab der Prinz zum 90. Geburtstag seiner Grossmutter ein Konzert, wo ich auch mit den Gästen eingeladen war.

Savitha brachte ihre Jahresabschlussprüfungen hinter sich und freute sich auf die wohlverdienten Sommerferien. Gleich nach der letzten Prüfung kam Amma mit Savithas älterer Schwester Saritha, deren Mann und der 3-jährigen Sreekutty und holte Savitha ab. Sie hatte sich für die Fahrt mit dem Jeep in ihr Heimatdorf gross heraus geputzt. Ein bisschen overdressed vielleicht für den Anlass, doch es ist hier durchaus üblich, dass man sich für eine Busfahrt zu Verwandten in Partykleidung stürzt. Es kann in Indien nicht genug glänzen, glittern und funkeln. Sie sah wie eine Bollywoodschönheit aus. Dieses Jahr wird sie 17 und sie hat noch keinen einzigen Pickel und das kleine „Pumpernüssli“ hat sich zu einer blühenden jungen Frau gemausert.

Danach kehrte Ruhe ein im Haus und abends bin ich jeweils alleine mit Jimmy. Shashi erkundigte sich voller Sorge, ob sie bei mir übernachten soll, weil eine Frau nie alleine in einem Haus wohnen soll. Mir ist es jedoch wohl und ich kann mich auch alleine beschäftigen. Savitha schreibt mir jeden Tag diverse Liebesbekundungen per SMS und bei einem „I hati kans fesht garn“ schmilzt natürlich das Mutterherz. Zudem telefoniert sie mindestens dreimal täglich, obwohl sie von Ammas Haus aus keine Verbindung hat und immer zuerst den Hügel hinter dem Haus erklimmen muss. Nonno (Bruno) überliess ihr sein altes Handy und so wird das Geschenk rege benützt. Sie hat bereits drei Muslim-Girls in ihrem Alter um sich geschart und deshalb ist es kaum mehr von Bedeutung, dass Amma nicht mehr in der Nähe der Verwandten wohnt.

Wegen der jährlich zu erneuernden Firmenlizenz musste ich wieder mal auf der Gemeindeverwaltung vorbei schauen. Was normalerweise ein komplizierter Gang ist von Büro zu Büro, wo niemand was mit der Sache zu tun haben will, habe ich zum Glück gute Verbindungen und Prashanth nahm sich gleich meiner an. Er liess mich im Gemeinderatssaal warten und kümmerte sich um meine Papiere. Der Raum, wo über die Belange der Gemeinde beraten wird, war alles andere als beeindruckend. Nackte, weiss getünchte, schmuddelige Wände, ein Resopal-Tisch in U-Form mit altersschwachen Stühlen, die schon weit bessere Zeiten erlebt hatten. Ich suchte mir das stabilste Modell heraus - ein roter Plastikstuhl. An den Wänden hingen vergilbte, staubige Papiergirlanden, die sich müde im Wirbel des altersschwachen Deckenventilators bewegten. Und da bleiben sie bis zur nächsten Weihnacht oder bis sie sich von selbst auflösen...

Dafür ging es draussen im Treppenhaus umso geschäftiger zu und her. Da traten sich die Frauen gegenseitig auf die Füsse, weil sich alle um eine „ration-card“ bemühten. Formulare wurden ausgefüllt und wenn die Anträge akzeptiert werden, bekommen sie bei staatlichen Ausgabestellen verbilligte Hauptnahrungsmittel wie Reis, Weizen, Zucker und Kokosöl. Auch die Mutter von Savitha wird sich um eine solche Karte kümmern und ich musste eine Kopie der Geburtsurkunde von Savitha mitgeben, damit sie als alleinstehende Witwe mit einem minderjährigen Kind von dieser Aktion profitieren kann.

Ihr seht, ich bin nach meinem Schweizerurlaub gut nach Hause gekommen und hier hat mich das indische Leben wieder voll im Griff. Und ich geniesse es in vollen Zügen! Es wird im April wohl relativ ruhig werden, da wir keine Gäste haben. Gopikas werden das Geethanjali für 10 Tage schliessen, damit das Personal nach Hause kann und gönnen sich auch ein paar Ferientage zu Hause. Für die jährliche Pilgerreise bleibt dieses Jahr keine Zeit, da Kunjunni gleich nach den Abschlussprüfungen der 12. Klasse einen Crash-Kurs besucht, um sich auf die Aufnahmeprüfung in ein College vorzubereiten und Malu muss sich um eine Schule kümmern, damit sie dort das 11. und 12. Schuljahr absolvieren kann, mit der Fachrichtung Medizin, weil sie später Ayurveda studieren möchte, um das Geethanjali weiter zu führen. Dies alles steht mir im nächsten Sommer auch bevor mit Savitha... Aber ich hoffe, wir werden zu gegebener Zeit ein Plätzchen für sie finden.

Seid alle lieb gegrüsst
Yvonne und Savitha