Yvonne Muller

01 June 2008

Mai 2008

In den ersten Maitagen herrschte Hochstimmung im Drei-Mädel-Haus. Die Vorfreude auf den erwarteten Besuch war gross und hat einen richtigen Energieschub ausgelöst. Savitha mistete ihr Zimmer aus, trennte sich von ihrem alten Kram und nach dem vergangenen Schuljahr gab es eh viel zu entrümpeln. Auch bei mir oben habe ich vieles entsorgt, umgeräumt, Möbel umgestellt und Shashi hat danach alles schön geputzt. Nur Jimmy liess sich kaum anstecken. Er freute sich höchstens über ein Zusatz-Gutzi, lag träge im Schatten seines Häuschens und liess die Frauen drinnen werkeln.

Am 5. Mai war es dann soweit. Savitha begleitete mich zum Flughafen, obwohl sie absolut kein „earlybird“ ist und wir erwarteten Bruno gemeinsam um 05.00 Uhr in der Früh. In den folgenden Tagen warf ich ihn mitten ins pralle indische Leben. Nach dem ersten Kulturschock erholte er sich relativ schnell und sah nebst dem Lärm, Dreck, Staub und Chaos auch langsam die Schönheiten des Landes. Er war überwältigt von der Gastfreundschaft der Inder, den lächelnden Leuten, der Offenheit Ausländern gegenüber, der Farbenpracht der Saris, dem bunten Leben überhaupt auf der Strasse, vom geordneten Chaos beim Autofahren und der reichen Kultur, die noch richtig gelebt wird. Er konnte sich kaum sattsehen an den vielen Palmen, hat sogar von Hand gegessen, was er anfangs absolut gewöhnungsbedürftig fand und trug das landestypische Hüfttuch perfekt.

Dr. Gopika nahm uns mit zur Morgenpooja in einen speziellen Tempel in der Nähe, welcher den beiden Göttern Shiva und Vishnu geweiht ist. Normalerweise kommt er nicht mit Gästen hierher und deshalb musste er zuerst eine Bewilligung beim Oberpriester einholen, damit wir das Heiligtum betreten durften. Wir wurden jedoch herzlich willkommen geheissen – sicher auch, weil wir korrekt angezogen waren im traditionellen Kerala-Dothi und im Kerala-Sari. Gott Vishnu zu Ehren schlugen wir eine Kokosnuss auf einen Felsbrocken und Dr. Gopika war sichtlich erleichtert, als die Nuss in viele Splitter zerbarst, weil das ein gutes Omen bedeutet. Die grosse Morgenpooja war bereits vorbei, so dass der Priester die Gebetszeremonie ganz alleine für uns machte und wir konnten den heiligen Ort so richtig geniessen und auf uns einwirken lassen. Dieses Erlebnis hat Bruno tief berührt.

Am nächsten Tag waren wir zur Klassenzusammenkunft von Dr. Gopikas ehemaligen Studienkollegen mit ihren Familien eingeladen. Vor zwei Jahren war ich bereits dabei, als Gopikas die ganze Schar ins Geethanjali einlud und zum Lunch dislozierten wir ins nahe Gästehaus „Wild Palms“ hinüber, wo wir den Nachmittag am Meer genossen. Damals war ich als einzige Aussenstehende dabei und das war der Grund, warum ich auch dieses Jahr zum 25-jährigen Jubiläum eingeladen wurde. Wir trafen uns alle in einem schönen Strandhotel in Kovalam und standen als Ehrengäste immer wieder im Mittelpunkt. Es war natürlich spannend zu sehen, wie die Inder feiern und trotzdem konnten wir uns auch zwischendurch zurückziehen, weil fast ausschliesslich in Malayalam gesprochen wurde. Doch auch wenn wir nicht alles wortwörtlich mitbekommen haben, war es trotzdem interessant gewesen zu erfahren, was aus all den Familien geworden ist und gerade jetzt, wo es darum geht, welche berufliche Zukunft die Kinder einschlagen. Es war schön zu sehen, wie doch viele in die Fussstapfen der Eltern treten und somit eine neue Generation von Ayurveda-Ärzten und -Ärztinnen heran wächst.

Am folgenden Tag traf sich die ganze Gesellschaft im Ayurveda-College in Trivandrum, wo die ehemaligen Lehrer und Professoren geehrt wurden. Auch das ein sehr berührender Akt, als sie aus alten Zeiten berichteten, in denen sie noch unterrichteten. Inzwischen sind alle schon längst pensioniert, einige waren nicht mehr unter ihnen und andere waren zu krank um dabei zu sein. Doch wer kommen konnte, freute sich und alle schwelgten in Erinnerungen.

Bruno und ich verbrachten eine weitere Nacht in Kovalam und genossen nach dem offiziellen Teil das Hotel als Touristen, bevor es am nächsten Tag mit dem Auto in Richtung Südspitze ging. Etwas ausserhalb von Kanyakumari legten wir einen Halt ein und liessen uns durch den berühmten Suchindram-Tempel führen, welcher Shiva, Vishnu und Brahma geweiht ist. Es gibt nur sehr wenige Tempel, wo die Dreifaltigkeit geehrt wird und deshalb herrscht hier das ganze Jahr über, Tag und Nacht, grosser Andrang und er gehört für jeden Hindu zur Fahrt ans Cape Comorin. Uns ging es dieses Mal nicht um die Pooja, sondern um die Architektur (berühmt sind die klingenden Säulen) und die Geschichte, die uns erörtert wurde.

Zum Mittagessen trafen wir in Kanyakumari ein, wo ich bereits im letzten Dezember mit Ina und Rolf zwei Tage verbrachte. Wir fuhren mit dem Touristenschiff zum Vivekananda-Felsen hinüber, wo sich unter uns die drei Meere tosend und stiebend trafen, stiegen auf dem Nachbarfelsen im Denkmal an den berühmten Phylosophen bis zu seinen Zehen hinauf, wo seine Statue in den Himmel ragt. Wieder zurück auf dem Festland besuchten wir das Mahatma-Gandhi-Memorial. Hier wurde ein Teil seiner Asche dem Meer übergeben und an Gandhis Geburtstag scheint jeweils die Sonne durch die Decke genau auf seinen Gedenkstein. Nach einem grosszügigen Trinkgeld überschlug sich der alte Führer fast und veranstaltete eine grosse Fotosession.

Am nächsten Tag fuhren wir nach dem Frühstück wieder in Richtung Kerala, wo wir unterwegs den berühmten Pathmanabhapuram Palast besichtigten. Es hatte extrem viele Leute und so zogen wir relativ zügig durch die Räume und einige Eckdaten wusste ich noch von der letzten Führung, so dass wir nicht anstehen mussten. Der Palast lohnt sich auf alle Fälle wegen der sehr gut erhaltenen typischen Kerala-Architektur, den vielen Holzschnitzereien und man sieht sehr schön, wie die Maharaja-Familie damals gelebt hat. Die Frauen hielten sich nur im Palast auf, konnten aber durch geschnitzte Öffnungen das Leben draussen auf der Strasse beobachten. Genauso hat sich die Königsfamilie im „Partysaal“ des Palastes hinter einer geschnitzten Wand „versteckt“, um nicht vom Volk gesehen zu werden. Die gleiche Art von Balustrade mit den Gucklöchern hatten wir auch im Suchindram-Tempel gesehen, wo jeweils zu grossen Festen getanzt und musiziert wurde. Auch da war die Königsfamilie jeweils anwesend aber nicht sichtbar. Der Palast war eine der Sommerresidenzen des Maharajas von Travancore, der Königsfamilie, die noch heute in Trivandrum lebt. Nach der Staatengründung wurde der Palast verstaatlicht, gehört aber weiterhin zu Kerala, obwohl das ganze Areal auf Tamil Nadu Boden steht.

Zum Lunch waren wir bereits wieder in Kerala und wir liessen uns mit dem Boot nach Poovar Island fahren, damit sich Bruno die Backwaters vorstellen konnte. Er war beeindruckt vom Kanalsystem, der prächtigen Natur mit all den Palmen und vor der Insel trennte nur eine Sandbank das Meer von den Backwaters. Auf der Terrasse des Poovar Island Resorts liessen wir uns am Buffet kulinarisch verwöhnen und mit vollen Bäuchen ging es noch am gleichen Nachmittag nach Hause, wo wir bereits von Shashi und Savitha erwartet wurden.

Ich organisierte einen Ausflug nach Varkala, wir fuhren in die Stadt, besuchten den Kindergarten in meinem Quartier, waren natürlich auch im Geethanjali drüben und um eine Idee zu bekommen von meiner Arbeit, genoss Bruno zwei wohltuende Ayurveda-Massagen. Savitha und ich liessen uns ins Taj Hotel Kovalam ausführen und auf der Heimfahrt bewunderten wir die grosse Beleuchtung vom Tempelfest bei uns im Dorf. Wir hatten am Morgen bereits zugeschaut, wie die Elefanten vor dem Tempel gefüttert wurden, doch für den Umzug am Abend wurden nur 5 Elefanten zugelassen und nicht 22 wie im vorigen Jahr. Es gab in der letzten Zeit wieder vermehrt Probleme mit Elefanten, die Amok gelaufen sind und deshalb mussten die Regeln verschärft werden – was auch richtig ist. Deshalb wurde weniger Wert gelegt auf die Elefantenparade, dafür umsomehr auf die Festbeleuchtung, die wirklich grandios war und erst noch ungefährlich.

Sonst haben wir die Abende meistens zu Hause verbracht. Es ging immer lustig zu und her wenn in unserer kleinen Küche gemeinsam gekocht wurde. Während ich nur zum Tisch decken zu gebrauchen war, hat Savitha unter Nonnos Anleitung Gemüse geschnipselt und zusammen haben sie Pasta à la Pomodoro, Bratwürste mit selbstgemachtem Kartoffelstock (Savithas Lieblingsessen) oder einen feinen Fisch vom Grill mit Basmatireis gekocht. Das gemeinsame Essen, danach auf der Dachterrasse eine Runde UNO spielen mit Savitha und zum Abschluss einen Schlummertrunk unter dem Sternenhimmel von Kerala – diese Idylle ist uns mächtig eingefahren und wir haben die Abende sehr genossen.

So verging die Zeit wie im Flug und nach 11 intensiven Tagen mussten wir uns bereits wieder von Bruno verabschieden. Geplant waren drei Wochen, doch zwei Tage vor Abflug musste er seinen Rückflug aus terminlichen Gründen vorverschieben. Im Moment muss er sehr vieles verarbeiten, weil nicht ganz alles so war, wie er es sich vorgestellt hat. Indien ist halt mit keinem anderen Land zu vergleichen – und ich habe ihn mit meinem Alltag auch ganz schön gefordert. Zudem war das Programm sehr dicht gedrängt. Trotzdem bekam er einen ersten Eindruck von unserem Leben und unserem Alltag hier und jetzt muss sich alles setzen. Danach sehen wir weiter...

Für uns pendelte sich der Alltag bald wieder ein und es ging wieder ruhiger zu und her im 3-Mädel-Haus.

Savitha und ich wurden am Sonntag, 18. Mai bei Gopikas zum Lunch eingeladen. Die Eltern wollten zu Ehren ihrer Kinder eine kleine Party geben, da beide in der Zwischenzeit einen Studienplatz bekommen haben. Bereits im letzten Newsletter habe ich erwähnt, dass Malu in die Fussstapfen von ihrem Vater treten wird und Ayurveda studieren möchte, um das Geethanjali später zu übernehmen. Sie hat das 10. Schuljahr mit Bravour und den Höchstnoten geschafft und jede Schule hätte sie für das 11. und 12. Schuljahr gerne aufgenommen. Entschieden hat sie sich für die Ariya Central School, die einen super guten Ruf hat und zudem kann sie zu Hause wohnen und täglich mit dem Bus hin und her pendeln. Sie freut sich darauf, von jetzt an die Uniform der Schule tragen zu dürfen, auch wenn zwei sehr strenge Jahre vor ihr liegen. Danach möchte sie das Ayurveda-College in Trivandrum besuchen, wo auch ihr Vater studierte. Und Kunjunni, der sich mehr in Richtung IT, Management oder Recht orientieren wollte, hat sich zur grossen Überraschung von uns allen auch für eine Ayurveda-Laufbahn entschieden. Die Eltern hätten ihn nie unter Druck gesetzt und so freuten sie sich doppelt, dass er von sich aus das private Ayurveda College besuchen will, welches von einem Studienkollegen von Dr. Gopika geführt wird. Somit ist die Zukunft vom Geethanjali so oder so gesichert.

Ich freute mich, endlich mal wieder meine liebe Schweizerfreundin in Kovalam zu treffen, die auch hier wohnt, jedoch viel auf Reisen ist und deshalb sehen wir uns kaum mehr als einmal im Jahr. Dafür ist das jeweilige Beisammensein umso intensiver und sogar ein kleines „Heidner-Treffen“ kam zu Stande, als ich mich mit Freddy im tollen Leela-Kempisky Hotel in Kovalam zu einem ausgiebigen Lunch verabredete. Herrlich – die schön arrangierten Tische auf der Terrasse direkt neben dem Pool mit einer fantastischen Aussicht aufs blaue Meer, welches im Sonnenlicht glitzerte. Dazu Live-Musik und das Buffet liess keine Wünsche offen.

Auf der Heimfahrt türmten sich die ersten Monsunwolken auf und in den folgenden Tagen gabs auch schon den einen oder anderen Regenschauer, doch warten wir noch immer auf den offiziellen Start der Regenzeit. Dafür setzten die sommerlichen Gewitter ein, die jeweils den Monsun ankündigen. In der letzten Maiwoche in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag zog ein riesiges Gewitter kurz nach Mitternacht auf – direkt über unserem Quartier. Die Blitze zuckten nur so und es donnerte fürchterlich. Ein höllischer Knall und das ganze Dorf lag im Dunkeln. Der Blitz schlug in eine Transformer-Station ein und eine Palme riss eine Hauptstromleitung herunter. Nur Savitha hat kaum was mitbekommen. Wenn sie schläft, könnte die Welt untergehen! Den ganzen Freitag über wurde repariert. Am Abend gabs endlich ein bisschen Schwachstrom - die Ventilatoren drehten sich müde und es reichte gerade für ein Sterbenslichtlein. Mehr lag aber nicht drin. Eine zweite stromlose Nacht lag vor uns mit kleineren Gewittern und Savitha schlief bei mir. Es wurde etwas eng in meinem schmalen Bett, doch es war schön, mal wieder von ihren dünnen Ärmchen umschlungen zu werden und obwohl uns beiden am Morgen alles weh tat, haben wir gut geschlafen. Und nochmals ein langer Vormittag ohne Strom! Inzwischen war der Wassertank schon längstens leer und Savitha schleppte mit anderen Kindern Wasser in Eimern heran, die sie beim Nachbarsbrunnen füllten, so dass Shashi wenigstens kochen konnte. Kein angenehmes Gefühl, wenn der Wasserhahn trocken ist... Die Kühlschränke waren natürlich auch abgetaut, es gab kein Licht, kein Ventilator, kein PC und kein Internet, weder TV noch Musik, kein Mixer, keine Waschmaschine – einfach nichts – rein gar nichts. Und immer die Frage – wie lange müssen wir noch warten??? Endlich, nach zwei Nächten und 1 ½ Tagen ohne Strom, waren wir wieder am Netz, doch es blieb noch während Tagen sehr unstabil.

Savitha hatte die letzten 10 Mai-Tage nochmals schulfrei, doch am 2. Juni beginnt in ganz Kerala offiziell das neue Schuljahr. Sie hat das 10. Schuljahr bereits am 23. April begonnen und sie sind dementsprechend mit dem Lernstoff gut vorangekommen. Leider wurden die Parallelklassen so aufgeteilt, dass sie von ihren besten Freundinnen getrennt wurde, doch sie treffen sich jeweils in den Pausen und zum Lunch und zu Hause wird fleissig telefoniert... Jetzt sowieso, wo sie stolze Besitzerin eines Handys ist – von Nonno bekommen!

Ich habe mir im vergangenen Monat auch eine grössere Anschaffung gegönnt und eine Satellitenschüssel installieren lassen. Es hat zwar ziemlich Nerven gekostet, bis ich endlich TV schauen konnte, doch jetzt bekomme ich 180 Kanäle, von denen mich jedoch nur die Deutsche Welle und ein paar wenige andere Sender interessieren. Ich freue mich darüber, mich endlich wieder über das Geschehen in Europa und der übrigen Welt zu informieren, denn aus den hiesigen Zeitungen bekommen wir davon herzlich wenig mit.

Wir warten nun sehnsüchtig auf den Monsun und noch mehr freue ich mich auf Mitte Monat, wenn mich meine Freundin Monika aus der Schweiz besucht. Sie wird zwei Wochen bei uns bleiben und ich kann es kaum erwarten, bis wir uns wieder sehen...

Euch allen einen schönen Sommerbeginn – die grosse Hitze hat sich ja bereits angekündigt – und liebe Grüsse aus den Tropen sendet euch

Yvonne und Savitha